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Als die Türen mit einem Zischen auseinander gingen, warf ich einen allerletzten Blick auf die Frau und prägte mir rasch ihre Aura ein. Die Chancen, sie in dieser

Riesenstadt wiederzufinden, standen nicht gerade günstig. Trotzdem musste ich es versuchen.

Aber nicht jetzt.

Ich sprang aus dem Waggon und schaute mich um. Im Außendienst fehlte mir in der Tat jede Erfahrung, da hatte der Chef absolut Recht. Trotzdem gefielen mir seine Ausbildungsmethoden nicht im Geringsten.

Wie um alles in der Welt sollte ich mein Ziel finden?

Wenn ich die Leute mit meinem gewöhnlichen Blick ansah, wirkte auch nicht einer von ihnen verdächtig. Selbst jetzt wimmelte es hier nur so von Menschen - immerhin war das die Kurskaja, eine Station mitten auf der Ringlinie, mit Übergang zum Kursker Bahnhof, auf dem Reisende ankamen und Händler in alle Himmelsrichtungen abfuhren, zudem eine Station, wo auch etliche Moskauer umstiegen, um zu der Linie zu hetzen, die sie in ihre Schlafbezirke brachte. Sobald ich die Augen schloss, bot sich mir freilich ein weitaus faszinierenderes Bild: die wie üblich zum Abend hin verblassten Auren. Mittendrin loderte als greller, purpurroter Fleck die Bosheit von jemandem auf, leuchtete in kräftigem Orange ein Pärchen, das es offenbar kaum erwarten konnte, miteinander ins Bett zu steigen, während die Auren der Betrunkenen in verwaschenen braungrauen Streifen zerflossen.

Und nirgends eine Spur. Bloß diese trockene Kehle, dieses Jucken im Zahnfleisch und ein wie irrsinnig hämmerndes Herz. Dieser Beigeschmack von Blut auf den Lippen. Die wachsende Anspannung.

Alles nur indirekte Hinweise - und doch zu eindeutig, als dass ich sie hätte ignorieren können.

Wer konnte es sein? Wer?

Hinter mir setzte sich der Zug in Bewegung. Das Gefühl, ganz in der Nähe meines Ziels zu sein, ließ nicht nach, es musste also hier irgendwo sein. Auf dem gegenüberliegenden Gleis fuhr ein Zug ein. Ich spürte, wie das Ziel sich regte und auf ihn zuging.

Vorwärts!

Ich überquerte den Bahnsteig, schlängelte mich zwischen den auf die Anzeigetafeln glotzenden Leuten hindurch, steuerte auf das Ende des Zugs zu - und spürte mein Ziel nicht mehr so deutlich. Sofort rannte ich zum ersten Waggon… ja… ich kam ihm wieder näher…

Heiß, kalt - wie in dem Kinderspiel.

Die Leute stiegen in die Wagen ein. Ich rannte am Zug entlang, spürte, wie sich glibberiger Speichel in meinem Mund sammelte, meine Zähne anfingen wehzutun, meine Finger sich verkrampften. In meinen Kopfhörern dröhnte die Musik.

In the shadow of the moon,

She danced in the starlight Whispering a haunting tune

To the night…

Was für ein passender Song! Erstaunlich passend sogar…

Was nichts Gutes verhieß.

Ich sprang zwischen den sich schließenden Türen hindurch, erstarrte, lauschte in mich hinein. Getroffen oder nicht? Denn visuell hatte ich mein Ziel nach wie vor nicht ausgemacht.

Doch, getroffen.

Die Metro jagte den Ring entlang, während meine alarmierten Instinkte schrien:»Hier! Ganz nah!«

Hatte ich vielleicht sogar den richtigen Waggon erwischt?

Heimlich musterte ich die anderen Fahrgäste, musste mich dann aber von dieser Hoffnung verabschieden. Hier gab es niemanden, der von besonderem Interesse gewesen wäre.

Gut, ich kann warten.

Feel no sorrow, feel no pain,

Feel no hurt, there’s nothing gained…

Only love will then remain,

She would say.

An der Station Prospekt Mira spürte ich, dass sich mein Ziel entfernte. Ich sprang aus dem Waggon und folgte denen, die hier umstiegen. Nah, ganz nah…

Auf dem Bahnsteig der Nord-Süd-Strecke nahm ich mein Ziel in fast schmerzhafter Weise wahr. Ein paar Kandidaten hatte ich bereits ins Auge gefasst: zwei junge Frauen, einen jungen Mann, einen Jungen. Sie alle kamen in Frage, doch wer von ihnen war es?

Mein Quartett stieg in denselben Waggon ein. Immerhin etwas. Ich folgte den vieren und wartete ab.

Eine der beiden Frauen stieg an der Rishskaja aus.

Ich spürte das Ziel genauso stark wie zuvor.

Der junge Mann stieg an der Alexejewskaja aus.

Sehr schön. Die andere Frau oder der Junge? Wer von den beiden?

Ich gestattete mir einen verstohlenen Blick auf sie. Die Frau war füllig, rosawangig und in die Lektüre des Moskowski Komsomolez vertieft. Sie schien in keiner Weise nervös. Der Junge, ihr genaues Gegenteil, nämlich mager und zerbrechlich, stand an der Tür und fuhr mit dem Finger über die Scheibe.

Meiner Ansicht nach war die Frau ungleich… appetitlicher. Zwei zu eins, dass sie es ist.

Doch im Allgemeinen gibt die Frage des Geschlechts den Ausschlag.

Allmählich konnte ich den Ruf hören. Noch ohne Worte, sondern nur als zarte, getragene Melodie. Die Töne aus meinen Kopfhörern drangen bereits nicht mehr zu mir durch, denn der Ruf erstickte die Musik ohne weiteres.

Weder die Frau noch der Junge wurden unruhig. Entweder konnten sie sehr viel ertragen - oder sie hatten sich sofort ergeben.

Der Zug fuhr in die Station Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft ein. Der Junge nahm die Hand von der Scheibe, stieg aus und ging schnellen Schrittes auf den alten Ausgang zu. Die Frau blieb im Waggon.

Verflucht!

Beide waren noch so nah, dass ich nicht auszumachen vermochte, wen von ihnen ich spürte.

Und plötzlich schwang sich die Melodie des Rufs jubelnd auf, und es schlich sich eine Stimme in sie ein.

Eine weibliche!

Ich sprang zwischen den sich schließenden Türen nach draußen und eilte dem Jungen nach.

Sehr schön. Die Jagd näherte sich dem Ende.

Bloß - wie sollte ich in dieser Situation mit einem entladenen Amulett zurechtkommen? Ich hatte keinen blassen Schimmer…

Es waren kaum Leute ausgestiegen, auf der Rolltreppe standen insgesamt nur vier Menschen. Zuoberst der Junge, dann eine Frau mit Kind, schließlich ich und hinter mir ein zerknitterter älterer Oberst. Die Aura des Offiziers war sehr schön, strahlte hell und setzte sich aus funkelnden stahlgrauen und hellblauen Tönen zusammen. Amüsiert und müde dachte ich bei mir, dass ich ihn ja zu Hilfe rufen könnte. Männer wie er glauben noch heute an den Begriff der Offiziersehre.

Nur, dass mir der alte Oberst weniger nutzen würde als eine Fliegenklatsche bei der Elefantenjagd.

Ohne weiter über solchen Unsinn nachzudenken, richtete ich den Blick wieder auf den Jungen. Mit geschlossenen Augen scannte ich seine Aura.

Das Ergebnis war entmutigend.

Ein schillerndes, halb durchsichtiges Leuchten hüllte ihn ein. Ab und an färbte es sich rot, dann ging es wieder in tiefes Grün über, um schließlich als dunkelblaues Licht aufzulodern.

Ein seltener Fall. Ein Schicksal, das noch nicht besiegelt war. Ein diffuses Potenzial. Der Junge konnte zu einem elenden Schuft heranwachsen, konnte sich zu einem guten und gerechten Menschen entwickeln oder sich als ein Niemand herausstellen, als leere Stelle, wie im Grunde die meisten Menschen auf dieser Welt. Alles war noch offen, wie es so schön heißt. Eine solche Aura umgibt in der Regel Kinder unter zwei, drei Jahren, während sie bei älteren kaum noch anzutreffen ist.