Direkt in die Menschenwelt hinein. Direkt auf die Aussichtsplattform.
Ich fand mich auf einer Glasplatte wieder, in der Hocke, schwer atmend, mit einem plötzlichen Hustenanfall kämpfend, klatschnass vom Kopf bis zu den Zehen. Der Regen der anderen Welt roch nach Salmiak und Asche.
Ein leichter Seufzer erklang ringsum - die Menschen machten einen Bogen um mich, wichen vor mir zurück.
»Alles in Ordnung!«, krächzte ich.»Hören Sie?«
Ihre Augen konnten dem partout nicht zustimmen. An der Wand stand ein uniformierter Wachmann, ein
rechtschaffener Angestellter vom Fernsehturm, der jetzt mit versteinerter Miene die Pistole aus der Tasche zog.
»Das ist nur zu Ihrem Besten«, sagte ich, während mich ein weiterer Hustenanfall packte.»Haben Sie mich verstanden?«
Ich gestattete der Kraft, sich loszureißen und den Verstand der Anwesenden zu streifen. Die Gesichter entspannten sich nach und nach, nahmen einen gelösten Ausdruck an. Langsam wandten sich die Menschen ab, drückten sich die Nase wieder an den Fenstern platt. Der Wachmann hielt mitten in der Bewegung inne, die Hand an der geöffneten Pistolentasche.
Erst in diesem Moment erlaubte ich mir einen Blick auf den Boden. Und erstarrte.
Der Dunkle war noch da. Schrie. Wie schwarze Fünfkopekenstücke wirkten seine Augen, die Schmerz und Entsetzen aufrissen. Er hing unter der Scheibe, hing an den Fingerspitzen, die im Glas steckten, sein Körper schwankte wie ein Pendel unter den Windstößen hin und her, die Ärmel des weißen Hemdes waren von Blut getränkt. Der Stab befand sich noch immer an seinem Gürteclass="underline" Der Magier hatte ihn völlig vergessen. Jetzt war nur ich ihm geblieben, auf der anderen Seite des dreifachen Panzerglases, in dem trockenen, warmen und hellen Gehäuse der Aussichtsplattform, auf der anderen Seite von Gut und Böse. Ich, ein Lichter Magier, der über ihm saß und seinen durch Schmerz und Angst irre gewordenen Blick einfing.
»Hast du gedacht, wir würden immer ehrlich kämpfen?«, fragte ich. Irgendwie hatte ich den Eindruck, er würde mich hören, selbst durch das Glas und das Heulen des Windes hindurch. Ich erhob mich und schlug mit dem Absatz auf die Scheibe ein. Einmal, zweimal, dreimal - auch wenn die Tritte nicht bis zu den im Glas gefangenen Fingern gelangten.
Der Dunkle Magier zuckte krampfhaft zusammen, riss die Hand weg, brachte sie vor dem näher kommenden Absatz in Sicherheit, reflexartig, auf seine Instinkte vertrauend, nicht auf seinen Verstand.
Was das Fleisch nicht aushielt.
Das Glas färbte sich kurz rot ein, doch schon in der nächsten Sekunde fegte der Wind das Blut weg. Übrig blieb nur die Silhouette des Dunklen Magiers, die kleiner und kleiner wurde, sich in der Luft überschlug. Es zog sie hinunter zu den Drei kleinen Schweinchen, einer beliebten Bar am Fuße des Turms.
Eine unsichtbare Uhr, die in meinem Bewusstsein tickte, ließ die Zeiger wandern und verkürzte die verbleibende Zeit mit einem Schlag auf die Hälfte.
Ich trat von der Glasscheibe weg, drehte eine Runde über die Plattform, achtete dabei aber nicht auf die Menschen, die mir von selbst auswichen, sondern spähte ins Zwielicht. Keine weitere Wache. Wo also hockte der Stab? Oben, in den Räumen, zu denen Besucher keinen Zutritt hatten? Zwischen den Apparaturen? Das glaubte ich nicht. Die dürften sich etwas Komfortableres gesucht haben.
Ein weiterer Wachmann stand an der Treppe, die nach unten ins Restaurant führte. Ein Blick genügte, um zu begreifen: Ihn hatte schon jemand beeinflusst, und zwar erst vor kurzem. Zum Glück nur sehr oberflächlich.
Und was für ein irrsinniges Glück, dass sie diese Manipulation überhaupt für nötig hielten. Das hieß, die Würfel waren noch nicht gefallen.
Der Wachmann öffnete den Mund und wollte losschreien.
»Schweig! Gehen wir!«, befahl ich ihm bloß.
Ohne ein Wort zu sagen, kam er mir nach.
Wir gingen zur Toilette - einer kleinen kostenlosen Attraktion des Turms, das höchste Pissoir und die höchsten Kloschüsseln in Moskau, wenn jemand seine Spur in den Wolken hinterlassen wollte. Ich fuchtelte mit der Hand, worauf ein pickliger Teenager, sich die Hosen zuknöpfend, aus einer der Kabinen stürzte und ein Mann am Pissoir grunzte, dann aber doch mit dem Pinkeln aufhörte und sich mit glasigem Blick davonmachte.
»Zieh dich aus«, befahl ich dem Wachmann, während ich das feuchte Sweatshirt über den Kopf zog.
Die Pistolentasche ließ sich nicht schließen, meine Desert Eagle war um einiges wuchtiger als seine gute alte Makarow. Mich beunruhigte das nicht weiter. Hauptsache, die Uniform passte einigermaßen.
»Wenn du Schüsse hörst«, sagte ich dem Wachmann,»gehst du runter und erfüllst deine Pflicht. Verstanden?«
Er nickte.
»Ich bekehre dich zum Licht«, sprach ich die Formel der Anwerbung.»Verleugne das Dunkel, verteidige das Licht. Ich verleihe dir den Blick, um das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Ich verleihe dir den Glauben, dem Licht zu folgen. Ich verleihe dir die Kühnheit, gegen das Dunkel zu kämpfen.«
Früher hatte ich gedacht, ich könnte niemals von dem Recht, Freiwillige abzuwerben, Gebrauch machen. Wie unbeeinflusst wäre ihre Entscheidung, wenn sie im tiefsten Dunkel steckten? Wie durfte man einen Menschen für unser Spiel gewinnen, wenn die Wachen selbst als Gegengewicht zu dieser Praxis gegründet worden waren?
Jetzt handelte ich, ohne zu zögern. Nutzte das Schlupfloch, das die Dunklen gelassen hatten, als sie den Wachmann mit dem Schutz ihres Stabes betraut hatten, für den Fall der Fälle, wie man sich in der Wohnung einen kleinen Hund hält, der zwar nicht beißen, aber kläffen kann. Damit hatte ich das Recht, den Mann auf die andere Seite zu zerren, ihn hinter mir herzuziehen. Denn er war weder gut noch böse, sondern ein ganz normaler Mensch, mit einer maßvoll geliebten Frau, alten Eltern, um die er sich regelmäßig kümmerte, einer kleinen Tochter und einem fast erwachsenen Sohn aus erster Ehe, einem schwach ausgeprägten Glauben an Gott, wirren moralischen Prinzipien und ein paar Standardträumen - ein ganz normaler Mensch eben.
Kanonenfutter für die Armeen des Lichts und des Dunkels.
»Das Licht ist mit dir«, sagte ich. Und der kleine, bemitleidenswerte Mensch nickte und strahlte übers ganze Gesicht. In seinen Augen loderte Anbetung auf. Genauso hatte er vor ein paar Stunden den Dunklen Magier angeschaut, der ihm einen ungenauen Befehl gegeben und ihm mein Foto gezeigt hatte.
In einer Minute würde der Wachmann in meiner
feuchten und stinkenden Kleidung an der Treppe stehen. Ich würde hinuntergehen und mir klar zu machen versuchen, wie ich reagieren sollte, wenn Sebulon zum Stab gehörte. Oder ein anderer Magier seines Ranges.
Mit meinen Fähigkeiten würde ich diese Maskierung auch nicht eine Sekunde lang aufrechterhalten können.
Der Bronzene Saal. Ich trat zur Tür hinaus, schaute auf den absurden ringförmigen Speisewagen. Der Ring mit den darauf angebrachten Tischchen drehte sich langsam.
Aus irgendeinem Grund hatte ich angenommen, die Dunklen hätten ihren Stab im Goldenen oder Silbernen Saal untergebracht. Ich war sogar leicht verwundert von dem Bild, das sich mir darbot.
Die Kellner schwammen wie Fische im Winter, brachten alkoholische Getränke an die Tische, die hier eigentlich verboten waren. Auf zwei Tischen direkt vor mir standen Computer, beide an ein Handy angeschlossen. Man hatte gar nicht erst Kabel zu den zahllosen Verbindungen des Turms gelegt, der Stab wollte also nicht lange bleiben. Drei junge Kerle mit langen Haaren arbeiteten konzentriert - die Finger hüpften über die Tastatur, auf den Bildschirmen krochen die Zeilen dahin, in den Aschern qualmten die Zigaretten. Obwohl ich die Programmierer der Dunklen noch nie gesehen hatte, wusste ich, dass es sich bei ihnen um einfache Operator handelte, nicht um Systemadministratoren. Sie unterschieden sich in nichts von einem unserer Magier, der im Stab an einem ans Internet angeschlossenen Laptop arbeitet. Vielleicht sahen sie sogar anständiger aus als einige von unseren Leuten.