»Sokolniki ist vollständig abgedeckt«, sagte einer der drei. Nicht sehr laut, doch die Stimme dröhnte durchs ganze Panorama-Restaurant, ließ die Kellner zusammenzucken und stolpern.
»Die Linie Taganskaja-Krasnopresnenskaja haben wir unter Kontrolle«, erwiderte ein anderer. Die Jungs sahen sich an und lachten. Wahrscheinlich wetteiferten sie, wer seine Abschnitte zuerst abgearbeitet hatte.
Fangt mich doch, fangt mich!
Ich ging durchs Restaurant auf die Bar zu. Achtet nicht auf mich! Bin nur ein hilfloser Mann, einer von denen, die kurzfristig zum Wachhund abkommandiert wurden. Ein Wachmann, der ein Bier trinken wollte - ja, war ihm denn jedes Verantwortungsgefühl abhanden gekommen? Oder wollte er sich von der Sicherheit der neuen Herren überzeugen? Im Dienste seiner Majestät die Wache nachts auf Streife geht. Taram, pam, pam, tara-ra-ra…
Eine ältere Frau an der Biertheke polierte mit mechanischen Bewegungen Gläser. Als ich mich vor sie stellte, schenkte sie mir schweigend ein Bier ein. In ihren Augen war es leer und dunkel, sie hatte sich in eine Marionette verwandelt. Einen kurzen heftigen Wutanfall konnte ich mit Mühe unterdrücken. Das durfte nicht sein. Gefühle waren nicht erlaubt. Ich bin auch ein Automat. Puppen haben keine Emotionen.
Dann sah ich die junge Frau, die auf einem hohen Drehhocker an der Bar saß, und abermals sank mir das Herz.
Wie hatte ich das vergessen können?
Jeder Einsatzstab muss seinen Gegner informieren. In jedem Einsatzstab gibt es einen Beobachter. Das ist
ein Teil des Vertrages, eine der Spielregeln, die beiden Seiten nützt - oder zu nützen scheint. Bei jedem Einsatz unseres Stabs ist ebenfalls ein Dunkler dabei.
Hier saß Tigerjunges.
Zunächst streifte mich der Blick der Frau ohne besonderes Interesse, und ich hoffte schon, alles würde glatt gehen.
Dann wanderten ihre Augen zu mir zurück.
Sie sah schon den Wachmann, dessen Gestalt ich angenommen hatte. Und irgendetwas stimmte nicht mit den in ihren Gedächtnis abgespeicherten Zügen überein. Beunruhigte sie. Ein Moment, und sie schaute mich durchs Zwielicht an.
Reglos stand ich da, versuchte nicht, mich zu verbergen.
Die Frau wandte den Blick ab, fixierte den ihr gegenübersitzenden Magier. Kein schwacher Magier, sein Alter schätzte ich auf etwa hundert Jahre, seine Kraft mindestens auf die dritte Stufe. Kein schwacher Magier, aber ein selbstzufriedener.
»So oder so handelt es sich bei eurem Vorgehen um eine Provokation«, sagte sie in ruhigem Ton.»Die Tagwache weiß doch, dass Anton nicht der Wilde ist.«
»Sondern?«
»Ein uns unbekannter, nicht initiierter Lichter Magier. Ein Lichter, der von den Dunklen kontrolliert wird.«
»Wozu das denn, Mädel?«, wunderte sich der Magier aufrichtig.»Erklär mir das mal bitte. Wozu sollten wir unsere Leute umbringen, selbst wenn es nicht die wertvollsten sind?«
»›Nicht die wertvollsten‹ ist der Schlüssel zu allem«, meinte Tigerjunges melancholisch.
»Ja, wenn wir die Möglichkeit hätten, das Oberhaupt der Moskauer Lichten zu vernichten. Doch an den kommen wir wie üblich nicht ran. Aber zwei Dutzend Leute opfern für einen einzigen durchschnittlichen Lichten? Das ist nicht dein Ernst. Oder hältst du uns alle für Idioten?«
»Nein, ich halte euch für Schlauköpfe. Wahrscheinlich sogar für größere Schlauköpfe als mich.«Tigerjunges setzte ein unschönes Lächeln auf.»Aber ich bin nur eine Fahnderin. Die Schlussfolgerungen ziehen andere. Und dass sie das tun, steht außer Frage.«
»Wir fordern ja nicht, dass er auf der Stelle bestraft wird!«Der Dunkle lächelte.»Selbst jetzt schließen wir die Möglichkeit eines Fehlers nicht aus. Das Tribunal, eine qualifizierte und unvoreingenommene Untersuchung, Gerechtigkeit - das ist alles, was wir wollen!«
»Aber es ist schon reichlich merkwürdig, dass euer Oberhaupt Anton mit der Geißel Schaabs nicht erwischen konnte.«Die Frau schnippte mit dem Finger gegen das halb leere Bierseidel.»Wirklich bemerkenswert. Seine liebste Waffe, die er seit Hunderten von Jahren in vollendeter Form beherrscht. Als ob die Tagwache gar kein Interesse daran hätte, Anton zu fassen.«
»Mein liebes Mädchen«, der Dunkle beugte sich über den Tisch,»das ist doch inkonsequent! Ihr solltet uns nicht vorwerfen, einerseits einen Unschuldigen, einen gesetzestreuen Lichten, zu verfolgen, es aber andererseits gar nicht auf seine Festnahme anzulegen.«
»Warum nicht?«
»Das ist so ein kleinlicher Sadismus.«Der Magier kicherte.»Das Gespräch bereitet mir ein außerordentliches Vergnügen. Ihr haltet uns doch nicht etwa für eine Bande durchgedrehter blutrünstiger Psychopathen?«
»Nein, wir halten euch für eine Bande durchtriebener Halunken.«
»Dann lass uns doch mal unsere Methoden vergleichen.«Offenbar sattelte der Dunkle sein Steckenpferd.»Lass uns den Schaden vergleichen, den die Wachen unter einfachen Menschen, unter unserer Futterbasis, anrichten.«
»Das trifft nur für euch zu, dass Menschen Futter sind.«
»Und für euch nicht? Kommen denn die Lichten jetzt von den Lichten und nicht mehr aus der Menge?«
»Für uns sind die Menschen die Wurzeln. Unsere Wurzeln.«
»Von mir aus auch Wurzeln. Wozu um Worte streiten? Doch dann sind es auch unsere Wurzeln, Mädel. Und sie versorgen uns mit immer mehr Saft, das verhehle ich gar nicht, das ist kein Geheimnis.«
»Wir werden aber auch nicht weniger. Auch das ist kein Geheimnis.«
»Sicher. Wir leben in stürmischen Zeiten, voller Stress und Anspannung, die Menschen gehen ständig bis an ihre Grenze - und von da bis zu uns Andern ist es nur ein kleiner Schritt. Wenigstens darin könnten wir uns doch mal einig sein!«Der Magier gickste.
»Gut«, stimmte Tigerjunges zu. In meine Richtung blickte sie nicht mehr, das Gespräch kreiste um das ewige, unerschöpfliche Thema, über das man hitzig
stritt, über das sich die Philosophen beider Seiten die Köpfe einschlugen, nicht nur zwei Magier, ein Dunkler und ein Lichter, die sich langweilten. Mir war klar, dass Tigerjunges bereits alles gesagt hatte, was ich wissen musste.
Oder alles, was sie zu sagen für möglich hielt.
Ich nahm das Bierglas, das vor mir stand. Trank einige gleichmäßige, tiefe Schlucke. Ich hatte wirklich Durst.
War die Jagd nur vorgetäuscht?
Ja. Das hatte ich selbst auch schon begriffen. Das Wichtigste, was ich jetzt hatte in Erfahrung bringen müssen, war, ob unsere Leute das auch so sahen.
Den Wilden hatten sie also noch nicht gefasst?
Natürlich nicht. Andernfalls hätten sie sich schon mit mir in Verbindung gesetzt. Telefonisch oder mental, für den Chef ist das ein Kinderspiel. Der Mörder wäre dem Tribunal übergeben worden, Swetlana würde nicht länger zwischen dem Wunsch zerrissen, mir zu helfen, und der Notwendigkeit, sich aus einem Kampf herauszuhalten, und ich würde Sebulon ins Gesicht lachen.
Aber wie, wie sollte man in einer Riesenstadt einen Menschen finden, dessen Fähigkeiten sich nur spontan Bahn brechen? Auflodern und verlöschen. Von Mord zu Mord, von einem nutzlosen Sieg über das Böse zum nächsten? Wenn er den Dunklen wirklich bekannt wäre, würde nur die Führungsspitze dieses Geheimnis kennen.