sie, wenn man sie einfach sie selbst sein lässt.
Sechs
Sobald ich aus dem Turm herauskam, hielt ich inne und steckte die Hände in die Taschen. Im Stehen schaute ich mir die gen Himmel gerichteten Scheinwerferstrahlen an, die beleuchtete Bude an der Eingangskontrolle.
Nur zwei Punkte verstand ich nicht in diesem Spiel, das die Wachen trieben, genauer gesagt, die Leitungen der Wachen.
Der ins Zwielicht Entschwundene - wer war er, auf wessen Seite stand er? Wollte er mich warnen oder täuschen?
Und Jegor? Hatten wir uns zufällig getroffen oder nicht? Falls nicht, was war es dann, ein Knoten des Schicksals oder nur ein Zug Sebulons?
Über die Bewohner des Zwielichts wusste ich so gut wie nichts. Vielleicht wusste noch nicht einmal Geser etwas über sie.
Über Jegor dagegen konnte ich nachdenken.
Bei ihm handelte es sich um eine Karte, die noch nicht ausgeteilt worden war. Obwohl von niedrigem Wert, blieb er ein Trumpf, so wie wir alle. Und auch auf die kleinen Trümpfe kann man nicht ohne weiteres verzichten. Jegor war bereits ins Zwielicht eingetreten, das erste Mal, als er versucht hatte, mich zu sehen, das zweite Mal, um sich vor der Vampirin zu retten. Keine gute Ausgangsposition, ehrlich gesagt. Beide Male hatte ihn Angst geleitet, was bedeutete, dass seine Zukunft schon fast entschieden war.
Ein paar Jahre konnte er sich noch auf der Grenze zwischen einem Menschen und einem Anderen halten, aber sein Weg würde zu den Dunklen führen.
Der Wahrheit sieht man besser ins Auge.
Wahrscheinlich würde er ein Dunkler. Und es spielt keine Rolle, dass Jegor bisher ein ganz normaler lieber Junge gewesen ist. Wenn ich das hier überlebe, muss ich irgendwann seine Papiere verlangen oder meine vorlegen, wenn wir uns begegnen.
Vermutlich kann Sebulon ihn manipulieren. Ihn an einen Ort treiben, an dem ich mich befinde. Was den Gedanken nahe legt, dass er meinen Standort aufs Beste spüren kann. Doch damit rechne ich ohnehin.
Doch hatte unsere»zufällige«Begegnung einen Sinn?
Ja, wenn ich mir die Aussage des Operators vor Augen halte: Der Bezirk um die Metrostation»Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft«war noch nicht durchkämmt. Könnte mich da nicht der irrsinnige Gedanke packen, den Jungen zu benutzen, mich bei ihm zu Hause zu verstecken oder ihn um Hilfe zu rufen? Könnte ich da nicht zu ihm gehen?
Nein, zu kompliziert. Viel zu kompliziert. Man hätte mich sowieso leicht fassen können. Irgendwas hatte ich übersehen, irgendwas überaus Wichtiges.
Ich ging Richtung Straße, ohne noch einmal auf den Fernsehturm zu schauen, der heute den getürkten Stab der Dunklen beherbergte, vergaß fast den verkrüppelten Körper des wachhabenden Magiers, der jetzt irgendwo am Fuße des Turms lag. Was wollten die von mir? Was? Fangen wir mal damit an.
Ich sollte den Köder abgeben. Der Tagwache in die Hände fallen. Und zwar auf eine Weise, die keine Zwei-
fel an meiner Schuld ließ; was faktisch bereits geschehen war.
Das würde Swetlana nicht ertragen. Wir können sie und ihre Angehörigen verteidigen. Wir sind aber nicht imstande, ihre eigenen Entscheidungen zu beeinflussen. Und wenn sie mich retten, mich aus den Verliesen der Tagwache befreien, mich beim Tribunal herausboxen wollte, würden die sie ohne mit der Wimper zu zucken vernichten. Das ganze Spiel zielt darauf ab, dass sie einen falschen Zug macht. Ist vor langer Zeit eingefädelt worden, damals, als der Dunkle Magier Sebu-lon das Auftauchen einer Großen Zauberin voraussah und erkannte, welche Rolle ich dabei spielen sollte. Danach wurden die Fallen aufgestellt. Die erste hat versagt. Die zweite hat ihr gieriges Maul schon geöffnet. Möglicherweise wartet noch eine dritte auf mich.
Aber was hat der Junge damit zu tun, dessen magische Fähigkeiten noch nicht zu Tage treten konnten?
Ich blieb stehen.
Er war doch ein Dunkler, oder?
Wer von uns bringt denn die Dunklen um? Die schwachen, unerfahrenen Dunklen, die sich nicht weiterentwickeln wollen?
Eine weitere Leiche, die mir angehängt werden soll? Aber wozu?
Ich wusste es nicht. Aber dass der Junge zum Tode verdammt und unser Treffen in der Metro kein Zufall war, stand für mich mit unumstößlicher Sicherheit fest. Vielleicht, weil mir noch einmal ein Blick in die Zukunft gestattet wurde, vielleicht, weil ein weiteres Puzzleteil an seinen Platz gerückt war.
Jegor würde sterben.
Mir fiel wieder ein, wie er mich auf dem Bahnsteig angesehen hatte, mit zusammengekniffenen Augenbrauen, aber auch von dem Wunsch erfüllt, mich einerseits etwas zu fragen, mich andererseits zu beschimpfen, mir die Wahrheit über die Wachen an den Kopf zu werfen, hinter die er viel zu früh gekommen war. Wie er sich umgedreht hatte und zur Metro gerannt war.
»Aber Ihre Leute verteidigen Sie doch? Die von Ihrer Wache?«
»Sie versuchen es.«
Natürlich versuchen sie es. Bis ganz zum Schluss werden alle den Wilden suchen.
Und der ist der Schlüssel zu allem!
Ich blieb stehen und presste mir die Hände an den Kopf. Beim Licht und beim Dunkel, wie blöd ich bin! Wie unsagbar naiv!
Solange der Wilde noch am Leben ist, würde die Falle nicht zuschnappen. Es reicht nicht, mich als psychopathischen Jäger auszugeben, als einen Wilderer der Lichten. Sie müssen unbedingt auch den echten Wilden töten.
Die Dunklen - oder zumindest Sebulon - wissen, wer er ist. Mehr noch, sie können ihn lenken. Werfen ihm Beute vor, Leute, mit denen sie nicht viel anfangen können. Jetzt zieht der Wilde nicht bloß in eine weitere heldenhafte Schlacht - nein, er verschreibt sich dem Kampf gegen das Dunkel mit Leib und Seele. Überall begegnen ihm Dunkle: zuerst die Tierfrau, dann der Dunkle Magier im Restaurant, jetzt der Junge. Wahrscheinlich glaubt er, die Welt sei verrückt geworden, die Apokalypse nahe, die Kräfte des Dunkels rissen die Welt an sich. Ich wollte nicht in seiner Haut stecken.
Die Tierfrau war notwendig, um Protest zu erheben und uns klar zu machen, wer in Gefahr schwebt.
Der Dunkle Magier, um mich auf frischer Tat zu ertappen und damit das Recht zu haben, mich offiziell anzuklagen und zu verhaften.
Der Junge, um den Wilden zu vernichten, der seine Schuldigkeit getan hat. Im letzten Moment einzugreifen, ihn zu fassen, wie er über die Leiche gebeugt dasteht, ihn zu töten, um seine Flucht und seinen Widerstand zu unterbinden. Denn er wird nicht verstehen, dass wir nach Regeln kämpfen, wird sich nie ergeben, nicht auf den Befehl irgendwelcher»Wächter des Tages«reagieren, von denen er noch nie gehört hatte.
Nach dem Tod des Wilden bleibt mir kein Ausweg mehr. Entweder stimme ich einer Gedächtnisinversion zu oder gehe ins Zwielicht ein. In beiden Fällen wird Swetlana ausrasten.
Mich fröstelte.
Es war kalt. Trotz allem. Ich hatte schon gedacht, der Winter sei endgültig vorbei, aber da hatte ich mich geirrt.
Ich streckte die Hand aus und hielt das erste Auto an. Sah dem Fahrer in die Augen und befahclass="underline" »Fahren wir.«
Der Impuls war ziemlich stark, er fragte noch nicht einmal, wohin.
Die Welt steuerte auf ihr Ende zu.
Irgendwas bewegte sich, rückte zur Seite, die alten Schatten rührten sich, die dumpfen Wörter längst vergessener Sprachen erklangen, ein Zittern ging durch die Erde.
Über der Welt zog das Dunkel herauf.