Das Gesetz verteidigen. Das Böse verfolgen. Die Unschuldigen beschützen.
Wie schön es wäre, wenn immer alles so klar und einfach wäre wie mit zwölf oder mit zwanzig Jahren. Wenn es in der Welt wirklich nur zwei Farben gäbe: Schwarz und Weiß. Doch selbst der anständigste und treuherzigste Polizist, erzogen nach den vollmundigen Idealen des Stars-and-Stripes-Banners, kam früher oder später dahinter: In den Straßen gibt es nicht nur das Dunkel und das Licht. Es gibt Vereinbarungen, Kompromisse, Abkommen. Informanten, Fallen, Provokationen. Früher oder später muss man seine eigenen Leute ausliefern, Heroinpäckchen in fremde Taschen schmuggeln, jemanden in die Nieren schlagen, aber sorgfältig, damit keine Spuren zurückbleiben.
Und all das um jener ganz einfachen Regeln willen.
Um das Gesetz zu verteidigen. Das Böse zu verfolgen. Die Unschuldigen zu beschützen.
Diese Lektion habe auch ich lernen müssen.
Ich lief den engen Mauerschlauch entlang, spießte mit dem Bein einen Zeitungsfetzen auf, der an der Wand lag. Hier war der unglückselige Vampir zu Staub zerfallen. Er war wirklich unglückselig, denn seine einzige Schuld bestand darin, sich zu verlieben. Nicht in eine Vampirin, nicht in eine Frau, sondern in sein Opfer, seine Beute.
Hier hatte ich den Wodka verspritzt, der das Gesicht der Frau verbrannt hatte, die wir, die Wächter der Nacht, den Vampiren als Nahrung geliefert hatten.
Wie gern führen sie, die Dunklen, das Wort»Freiheit«im Mund! Wie oft versichern wir uns selbst, dass die Freiheit ihre Grenzen hat.
All das ist vermutlich völlig richtig. Für die Dunklen wie für die Lichten, die einfach inmitten der Menschen leben, zwar größere Möglichkeiten als diese haben, sich in ihren Wünschen aber nicht von ihnen unterscheiden. Für diejenigen, die ein Leben nach den Spielregeln führen, nicht die Konfrontation suchen.
Doch man braucht nur an die Grenze zu kommen, die unsichtbare Grenze, an der wir, die Wächter, stehen und Dunkel und Licht trennen…
Dort herrscht Krieg. Und Krieg ist immer ein Verbrechen. Immer, zu allen Zeiten, gibt es im Krieg nicht nur Heroismus und Selbstaufopferung, sondern auch Verrat, Gemeinheit, Schläge in den Rücken. Anders kann man nicht kämpfen. Anders hätte man das Spiel von vornherein verloren.
Aber was für ein abgekartetes Spiel! Wofür lohnt es sich zu kämpfen, wofür kann ich kämpfen, wenn ich an der Grenze stehe, genau in der Mitte zwischen dem Licht und dem Dunkel? Meine Nachbarn sind Vampire!
Niemals - zumindest für Kostja gilt das -, niemals haben sie gemordet. Aus Sicht der Menschen sind sie anständige Leute. Wenn man sie nach ihren Taten beurteilt, sind sie weitaus ehrlicher als der Chef oder Olga.
Wo ist die Trennlinie? Wo die Rechtfertigung? Die Vergebung? Ich habe darauf keine Antwort. Kann sie nicht geben, nicht einmal mir selbst. Ich lasse mich nur noch träge dahintreiben im Strom der alten Überzeugungen und Dogmen. Wie schaffen sie das, meine Kameraden, die Fahnder der Wache, sich permanent zu schlagen? Wie begründen sie ihr Verhalten? Auch das weiß ich nicht. Aber ihre Entscheidungen helfen mir nicht. Hier ist jeder auf sich selbst gestellt - ganz wie in den tönenden Losungen der Dunklen.
Am meisten macht mir jedoch etwas anderes zu schaffen: Ich habe gespürt, dass ich, wenn ich dieses Spiel nicht durchschaue, diese Grenze nicht erfühle, verloren bin. Und nicht nur ich. Auch Swetlana würde sterben. Der Chef würde sich in dem sinnlosen Versuch verzetteln, sie zu retten. Die ganze Struktur der Moskauer Wache würde zusammenbrechen.
For the want of a nail, a shoe was lost…
Eine Weile stand ich noch da, mich mit der Hand an der schmutzigen Ziegelwand abstützend. Erinnerte mich, kaute auf den Lippen, suchte nach einer Antwort. Es gab sie nicht. Also war es Schicksal.
Nachdem ich den einladenden stillen Hof durchquert hatte, kam ich zum»Haus auf Beinen«. Der sowjetische Wolkenkratzer beschwor längst vergessene Wehmut in mir herauf, eine völlig unangemessene, heftige Wehmut. Vergleichbar dem Gefühl, das ich bisweilen verspürte, wenn ich im Zug an einem verlas-
senen Dorf oder einem halb zerstörten Getreidespeicher vorbeifuhr. Völlig unangemessen, viel zu stark ausgeholt für einen Schlag, der in die Luft geht.
»Sebulon«, sagte ich,»wenn du mich hörst…«
Stille, die gewöhnliche Stille spätabends in Moskau - das Heulen der Autos, aus irgendeinem Fenster erklang Musik, Menschenleere.
»Du kannst ja doch nicht alles vorherberechnet haben«, brachte ich in der Öde hervor.»Niemals. Es gibt immer noch eine Realitätsverzweigung. Die Zukunft ist nicht vorbestimmt. Das weißt du. Und ich auch.«
Ich überquerte die Straße, ohne nach links oder rechts zu gucken, ohne auf die Autos zu achten. Ich hatte doch einen Auftrag, oder?
Die Abschirmungssphäre!
Polternd erstarrte die Straßenbahn auf den Schienen. Die Autos bremsten, umfuhren eine Leere, in deren Mitte ich mich befand. Alles hörte auf zu existieren - außer dem Gebäude, auf dessen Dach vor drei Monaten der Kampf stattgefunden hatte, außer der Dunkelheit, dem Aufleuchten einer Energie, die das menschliche Auge nicht sehen konnte.
Und diese Urkraft, die nur wenige sehen können, schwoll an.
Hier lag das Zentrum des Taifuns, da irrte ich mich nicht. Hatte man mich hierher befohlen? Hervorragend. Da bin ich. Denn du erinnerst dich noch an die kleine peinliche Niederlage, Sebulon. Kannst nicht vergessen, wie du im Beisein deiner eigenen Sklaven geohrfeigt worden bist.
Unabhängig von allen hohen Zielen - und ich bestreite nicht, dass es für ihn hohe Ziele sind - brodelt
in ihm noch ein Wunsch, der einst eine schlichte menschliche Schwäche darstellte, heute aber vom Zwielicht unermesslich verstärkt worden ist.
Sich zu rächen. Es heimzuzahlen.
Den Kampf erneut aufnehmen. Nach der Schlacht noch ein wenig mit den Fäusten zu fuchteln.
Ihr alle, ihr großen Magier - Lichte wie Dunkle - lehnt einen schlichten Kampf ab, wollt auf elegante Weise siegen. Den Gegner erniedrigen. Einfache Siege öden euch an, sind überholt. Die große Konfrontation ist zu einer endlosen Schachpartie verkommen. Auch für Geser, den großen Lichten Magier, der Sebulon mit ungemeinem Vergnügen verhöhnt, nachdem er ein anderes Äußeres angenommen hat.
Für mich ist die Konfrontation noch nicht zu einem Spiel geworden.
Vielleicht liegt darin meine Chance.
Ich zog die Pistole aus der Tasche, entsicherte sie. Ich atmete ein, tief, sehr tief, als wollte ich etwas erschnüffeln. Es war an der Zeit.
Maxim spürte, dass diesmal alles sehr schnell gehen würde.
Ohne lange nächtliche Lauer. Auch ohne lange Verfolgung. Zu deutlich war die Erleuchtung diesmal gewesen, und er hatte nicht nur die fremde, feindliche Anwesenheit wahrgenommen, sondern auch einen klaren Hinweis auf das Ziel.
Er war zur Kreuzung Galuschkinstraße und Jaros-lawskaja gefahren und hatte im Hof eines Hochhauses geparkt. Das schwelende schwarze Feuerchen beo-
bachtet, das sich langsam im Gebäude hin und her bewegte.
Dort hockte der Dunkle Magier. Maxim nahm ihn jetzt bereits in der Realität wahr, konnte ihn fast erkennen. Ein Mann. Mit schwachen Fähigkeiten. Kein Tiermensch, kein Vampir, kein Inkubus. Sondern ein Dunkler Magier. In Anbetracht der geringen Kräfte dürfte es keine Probleme geben. Die lagen woanders.