»Die Vampirin ist mir entwischt. Und unsere Leute haben sie nicht mehr geschnappt«, gab ich zerknirscht zu.
»In dieser Hinsicht hast du dir nichts vorzuwerfen. Du hast dich wacker geschlagen. Das Problem ist das Opfer…«
»Stimmt, der Junge kann sich an alles erinnern. Aber er ist einfach abgehauen…«
»Anton! Ich bitte dich! Der Junge folgte einem Ruf, der aus einer Entfernung von einigen Kilometern kam! Als er in den Tordurchgang trat, hätte er hilflos wie eine Marionette sein müssen! Und als sich das Zwielicht auflöste, hätte er in Ohnmacht fallen müssen! Anton, wenn er nach alldem noch in der Lage war, sich zu bewegen, schlummert in ihm ein phänomenales magisches Potenzial.«
Der Chef schwieg.
»Ich Idiot!«
»Nicht doch. Du hockst einfach schon zu lange in deinem Labor. Anton, dieser Junge hat das Zeug, mächtiger zu werden als ich!«
»Das ist doch…«
»Sehen wir den Tatsachen ins Auge…«
Das Telefon auf dem Tisch klingelte. Offenbar musste es etwas Wichtiges sein, denn kaum jemand kannte die Durchwahl des Chefs. Ich zum Beispiel kenne sie nicht.
»Ruhe!«, befahl der Chef dem unschuldigen Apparat, der daraufhin verstummte.»Anton, wir müssen diesen Jungen finden. Die geflohene Vampirin stellt an und für sich keine Gefahr dar. Entweder erwischen Igor und Garik sie doch noch, oder sie läuft einer unserer Streifen in die Arme. Doch wenn sie den Jungen aussaugt - oder, was noch schlimmer wäre, ihn initiiert… Dir ist nicht klar, was es mit einem richtigen Vampir auf sich hat. Die von heute - das sind doch nur Mücken verglichen mit irgend so einem Nosferatu. Dabei war er noch nicht einmal einer der größten, auch wenn er sich noch so sehr aufgespielt hat… Daher muss der Junge gefunden, untersucht und, wenn möglich, in die Wache aufgenommen werden. Wir dürfen ihn nicht der Dunklen Seite überlassen, denn dann würde das Gleichgewicht in Moskau endgültig zusammenbrechen.«
»Was ist das? Ein Befehl?«
»Eine Lizenz«, sagte der Chef düster.»Ich habe das Recht, Anweisungen dieser Art zu erlassen, wie du weißt.«
»Ja«, erwiderte ich leise.»Womit soll ich anfangen? Besser gesagt, mit wem?«
»Wie du willst. Vielleicht trotz allem mit der Frau. Versuch aber auch, den Jungen zu finden.«
»Ich gehe dann jetzt?«
»Schlaf dich erst mal aus.«
»Ich hab genug geschlafen, Boris Ignatjewitsch…«
»Das glaube ich nicht. Ich würde dir raten, dich noch ein Stündchen aufs Ohr zu legen.«
Ich verstand gar nichts mehr. Um elf war ich heute aufgestanden und sofort ins Büro gerast, fühlte mich frisch und voller Kraft.
»Und das ist deine Assistentin.«Der Chef schnipste mit den Fingern gegen die ausgestopfte Eule. Der Vogel breitete die Flügel aus und schrie empört auf.
Ich schluckte.»Wer ist das?«, traute ich mich zu fragen.»Oder besser, was ist das?«
»Wozu willst du das wissen?«, entgegnete der Chef, während er der Eule fest in die Augen sah.
»Um entscheiden zu können, ob ich mit ihm zusammenarbeiten möchte!«
Die Eule sah zu mir herüber und fauchte wie eine wütende Katze.
»Du hast die Frage falsch formuliert.«Der Chef schüttelte den Kopf.»Ob sie mit dir zusammenarbeiten möchte - darum geht es.«
Die Eule schrie erneut auf.
»Ja«, sagte der Chef, bereits nicht mehr an mich gewandt, sondern an den Vogel.»Du hast in vielem Recht. Aber hatte nicht Jemand darum gebeten, erneut Berufung einzulegen?«
Der Vogel erstarrte.
»Ich verspreche dir, dass ich mich hinter die Sache klemme. Und diesmal haben wir gute Chancen.«
»Boris Ignatjewitsch, meiner Meinung nach…«, setzte ich an.
»Entschuldige, Anton, aber deine Meinung kümmert
mich nicht…«Der Chef streckte den Arm aus, und die Eule wackelte unsicher auf ihren pludrigen Beinen heran, um sich auf seiner Hand niederzulassen.»Dir ist gar nicht klar, was du für ein Glück hast.«
Ich schwieg. Der Chef ging zum Fenster, riss es auf und hielt den Arm hinaus. Die Eule schlug mit den Flügeln und sauste im Sturzflug davon. Von wegen ausgestopft!
»Wohin fliegt… es?«
»Zu dir. Ihr werdet im Team arbeiten…«Der Chef rieb sich die Nasenwurzel.»Gut! Sie heißt Olga, merk dir das.«
»Die Eule?«
»Ja. Du wirst sie füttern, dich um sie kümmern - dann wird alles klappen. Und jetzt… schläfst du noch ein bisschen, bevor du aufstehst. Ins Büro brauchst du gar nicht erst zu kommen, du wartest auf Olga, und ihr macht euch gleich an die Arbeit. Überprüfe die Ringlinie der Metro, zum Beispiel…«
»Wie, noch ein bisschen schlafen…?«, setzte ich an. Doch die Welt um mich herum verblasste, verlosch bereits, löste sich auf. Schmerzhaft bohrte sich mir ein Zipfel von einem Kissen in die Wange.
Ich lag in meinem eigenen Bett.
Mein Kopf war schwer, meine Augen verklebt. Meine Kehle war ausgetrocknet und tat weh.
»Ah…«, stöhnte ich heiser auf und drehte mich auf den Rücken. Durch die schweren Gardinen war nicht zu erkennen, ob es noch Nacht war oder schon längst heller Tag. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich auf die Uhr: Die Leuchtziffern zeigten acht Uhr an.
Zum ersten Mal hatte mir der Chef eine Audienz im Traum gewährt.
Das ist keine angenehme Sache, vor allem für den Chef nicht, der sich in mein Bewusstsein hineinzwängen musste.
Offenbar lief uns wirklich die Zeit davon, wenn er es für notwendig hielt, mir meine Anweisungen in der Welt der Träume zu erteilen. Dabei - wie real sie gewirkt hatten! Das hätte ich nie für möglich gehalten. Die Analyse meines Auftrags, diese idiotische Eule…
Plötzlich fuhr ich zusammen - irgendetwas klopfte ans Fenster. Ein feines Geräusch, immer wieder, als trommle jemand mit Krallen gegen die Scheibe. Ein gedämpfter Vogelschrei drang zu mir ins Zimmer.
Was hatte ich denn erwartet?
Mit einem Satz war ich aus dem Bett, zog mir unbeholfen die Unterhose zurecht und rannte zum Fenster. Der ganze Mist, den ich zur Vorbereitung auf die Jagd in mich hineingekippt hatte, wirkte noch, und ich konnte jeden Gegenstand klar erkennen.
Mit einem Ruck riss ich die Gardinen zur Seite. Zog die Jalousie hoch.
Die Eule saß auf dem Fensterbrett. Sie blinzelte leicht - immerhin war es schon aufgeklart und damit für sie zu hell. Von der Straße aus dürfte natürlich nur mit Mühe zu erkennen gewesen sein, was für ein Vogel da vor dem Fenster im neunten Stock saß. Dafür wären meine Nachbarn, wenn sie denn herausgeschaut hätten, ziemlich von den Socken gewesen. Eine Schnee-Eule mitten im Zentrum von Moskau!
»Was um alles…«, sagte ich leise.
Ich hätte mich gern einer kräftigeren Ausdrucksweise bedient. Doch diese Gewohnheit hatte man mir gleich zu Beginn meiner Arbeit in der Wache abgewöhnt. Genauer gesagt, ich hatte sie mir selbst abgewöhnt. Wenn du ein-, zweimal einen dunklen Wirbelsturm über jemandem siehst, den du gerade in Grund und Boden geschimpft hast, fängst du sofort an, deine Zunge in Zaum zu halten.
Die Eule sah mich an. Sie wartete.
Überall spektakelten Vögel. Ein Schwarm Spatzen hatte sich etwas weiter weg in einem Baum niedergelassen und tschilpte in einem fort. Die Raben erfrechten sich schon stärker. Sie hatten den Balkon nebenan und die Bäume in der Nähe mit Beschlag belegt. Sie krächzten ohne Unterlass und sprangen immer mal wieder von den Zweigen und zogen ihre Kreise vorm Fenster. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass sie fürderhin von einem derart ungewöhnlichen Nachbarn nichts Gutes zu erwarten hatten.