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Maxim konnte nur hoffen und beten, dass ihm das nicht zu oft passieren würde. Tag für Tag die Ausgeburten des Dunkels zu vernichten laugte ihn nicht nur körperlich aus. Da war auch noch dieser absolut schreckliche Moment, wenn der Dolch das Herz des Feindes durchbohrte. Der Augenblick, in dem alles um ihn herum erbebte, um Gleichgewicht kämpfte, während die Farben stumpf wurden, die Geräusche verebbten, die Bewegungen sich verlangsamten. Was sollte er tun, wenn er sich einmal irrte? Wenn er nicht einen Feind der Menschheit, sondern einen gewöhnlichen Menschen liquidierte? Er wusste es nicht.

Aber einen Ausweg gab es nicht, denn er allein war auf dieser Welt in der Lage, die Dunklen von den einfachen Menschen zu unterscheiden. Nur ihm war - von Gott, dem Schicksal oder dem Zufall - die Waffe in die Hand gelegt worden.

Maxim langte nach dem Holzdolch. Betrachtete das Spielzeug mit einem Anflug von Sehnsucht und Panik. Nicht er hatte damals diesen Dolch gehobelt, nicht er hatte ihm den hochtrabenden Namen Misericorde gegeben.

Zwölf waren sie damals gewesen, er und Petka, sein bester und möglicherweise einziger Freund in der Kindheit oder - wozu das verhehlen - in seinem ganzen Leben. Hatten Ritter gespielt, nicht sehr lange, denn in ihrer Kindheit gab es genug, was ihnen Vergnügen bereitete, auch ohne Computer und Diskotheken. Alle Jungen aus dem Haus hatten zusammen gespielt, einen einzigen kurzen Sommer lang, hatten Schwerter und Dolche gehobelt, sich anscheinend mit aller Kraft duelliert, aber dennoch immer aufgepasst. Denn sie hatten gewusst, dass man sich auch mit einem Stück Holz ein Auge ausstechen oder sich bis aufs Blut aufritzen konnte. Komischerweise waren Petka und er immer in unterschiedlichen Pionierlagern gelandet. Vielleicht weil Petka etwas jünger war und Maxim sich deshalb ein wenig dieses Freundes schämte, der ihn mit begeisterten Augen ansah und ihm als schweigendes Schwänzchen verliebt hinterherlief. Wie oft hatte Maxim damals Petka bei einem ihrer Kämpfe das Holzschwert aus den Händen geschlagen - der konnte sich ja kaum gegen den größeren Freund wehren - und geschrien:»Du bist mein Gefangener!«

Bis einmal etwas Seltsames geschah. Petka streckte ihm schweigend den Dolch hin und sagte, der edle Ritter müsse sein Leben mit diesem Misericorde beenden, ihn aber nicht als Gefangenen demütigen. Es war ein Spiel, natürlich, nur ein Spiel, doch irgendetwas krampfte sich in Maxim zusammen, als er zuschlug, den Schlag mit dem Holzdolch vortäuschte. Und dann durchlebte er jenen unerträglich kurzen Moment, als Petka abwechselnd ihm, Maxim, auf die Hand, die den Spielzeugdolch an das verdreckte weiße T-Shirt presste, und in die Augen schaute. Und dann plötzlich wie nebenher sagte:»Behalt es, das soll deine Trophäe sein.«

Maxim behielt den hölzernen Dolch gern, ohne zu zögern. Sowohl als Trophäe wie auch als Geschenk. Nur dass er ihn niemals mit zum Spielen nahm. Ihn zu Hause aufbewahrte, ihn zu vergessen versuchte, als geniere er sich des überraschenden Geschenks und der eigenen Schwäche. Aber er erinnerte sich daran. Immer. Selbst als er heranwuchs, heiratete, als er sein eigenes Kind aufwachsen sah, vergaß er ihn nicht. Der Spielzeugdolch lag zwischen den Alben mit den Fotos seiner Kinder, den Briefumschlägen mit Locken und anderem sentimentalen Plunder. Bis zu jenem Tag, da Maxim zum ersten Mal die Anwesenheit des Dunkels auf der Welt spürte.

Damals schien ihn der Holzdolch zu rufen. Und sich in eine echte Waffe zu verwandeln, eine rücksichtslose, unbarmherzige, unbezwingbare Waffe.

Da lebte Petka schon nicht mehr. Erst hatte die Jugendzeit sie getrennt. Für ein Kind ist ein Altersunterschied von einem Jahr viel, für einen Jugendlichen ist es eine unüberwindbare Kluft. Dann trennte sie das Leben. Wenn sie sich trafen, lächelten sie sich zu, tauschten einen Händedruck und gossen sich ein paarmal aufs schönste einen hinter die Binde, während sie in Kindheitserinnerungen schwelgten. Maxim heiratete, zog um, und ihr Kontakt schlief fast völlig ein. Diesen Winter war ihm jedoch rein zufällig etwas zu Ohren gekommen. Seine Mutter hatte es ihm erzählt, die er - ganz wie es sich für einen anständigen Sohn gehörte - regelmäßig jeden Abend anrief.»Erinnerst du dich noch an Petka? Ihr wart als Kinder dicke Freunde, man hat den einen nie ohne den andern erwischt.«

Er erinnerte sich. Und wusste sofort, was diese Ein-

leitung sollte.

Petka war tödlich verunglückt. Vom Dach eines Hochhauses gefallen. Was hatte ihn bloß mitten in der Nacht dorthin getrieben? Vielleicht wollte er sich umbringen, vielleicht hatte er sich betrunken, auch wenn die Ärzte sagen, er sei nüchtern gewesen. Vielleicht wurde er auch umgebracht. Er hatte in irgendeiner kommerziellen Organisation gearbeitet, nicht schlecht verdient, seine Eltern unterstützt, ein gutes Auto gefahren.

»Er hat Drogen genommen«, hatte Maxim damals in scharfem Ton gesagt. So scharf, dass seine Mutter ihm noch nicht einmal widersprach.»Gehascht, aber er war ja schon immer seltsam.«

Und sein Herz raste nicht, krampfte sich nicht zusammen. Doch am Abend betrank er sich aus irgendeinem Grund. Dann ging er und tötete eine Frau, deren Dunkle Kraft ihre Umwelt zwang, ihre Geliebten zu verlassen und zu den gesetzlich angetrauten Ehefrauen zurückzukehren, tötete eine junge Hexe - eine Kupplerin, die gleichzeitig Zwietracht zwischen Paaren säte -, der er schon zwei Wochen lang vergeblich nachgestellt hatte.

Petka gab es nicht mehr, seit vielen Jahren gab es den Jungen nicht mehr, mit dem er einst befreundet gewesen war, und seit drei Monaten gab es Pjotr Nesterow nicht mehr, den er einmal im Jahr gesehen hatte, manchmal noch seltener. Doch der Dolch, den er ihm geschenkt hatte, blieb ihm.

Sie war wohl nicht vergebens gewesen, ihre unbeholfene Freundschaft in Kindertagen.

Maxim spielte mit dem hölzernen Dolch in der Hand.

Aber warum, warum war er allein? Warum hatte er keinen Freund an seiner Seite, der ihm zumindest einen Teil jener Last, die auf seinen Schultern ruhte, abnehmen konnte? So viel Dunkel gab es um ihn herum und so wenig Licht.

Warum erinnerte er sich jetzt an den letzten Satz Lenas, den sie ihm nachgerufen hatte:»Du solltest uns besser lieben, statt auf uns aufzupassen!«

Ist denn das nicht dasselbe, antwortete Maxim ihr in Gedanken.

Doch nein, wahrscheinlich nicht. Aber was sollte ein Mann tun, für den die Liebe ein Kampf ist, ein Mann, der gegen etwas zu Felde zieht, nicht für etwas?

Gegen das Dunkel, nicht für das Licht.

Nicht für das Licht, sondern gegen das Dunkel.

»Ich bin ein Hüter«, sagte Maxim. Zu sich selbst, mit gepresster Stimme, als schäme er sich, diesen Gedanken laut auszusprechen. Schizos reden mit sich selbst. Und das war er nicht, er war normal, mehr als normal, er sah das uralte Dunkel, das in die Welt kroch.

In sie kroch oder seit langem in ihr hauste?

Das war doch Wahnsinn. Man durfte nicht zweifeln, niemals. Wenn er auch nur einen Teil seines Glaubens verlor, sich entspannte oder auf die Suche nach nicht existierenden Gefährten ging, wäre das sein Ende. Der Holzdolch würde sich nicht in eine lichtbringende Klinge verwandeln, mit der das Dunkel vertrieben werden konnte. Ein gewöhnlicher Magier würde ihn mit einem Zauberfeuer verbrennen, eine Hexe würde ihn beschwören, ein Tiermensch ihn in Stücke reißen.

Ein Hüter und Richtherr!

Er durfte nicht zaudern.

Der Klumpen des Dunkels, der im achten Stock baumelte, sackte plötzlich nach unten. Maxims Herz fing an zu rasen: Der Dunkle Magier kam seinem Schicksal entgegen. Maxim sprang aus dem Auto und schaute sich rasch um. Niemand. Wie immer vertrieb etwas, das in ihm steckte, jeden zufälligen Zeugen, räumte ihm das Schlachtfeld frei.