Maxim schüttelte den Kopf.»Er ist ein Dunkler.«
Ich sah Jegor an. Langsam hob der Junge den Blick.
»Nein«, sagte ich.
Die Aura war klar zu erkennen, ein leuchtender reiner Regenbogen, schillernd, eine Aura, wie sie normalerweise nur kleine Kinder haben, nicht aber Jugendliche. Das eigene Schicksal, eine unbesiegelte Zukunft.
»Ein Dunkler.«Maxim schüttelte den Kopf.»Siehst du das denn nicht? Ich irre mich nie, niemals. Du hast mich daran gehindert, diesen Sendboten des Dunkels zu vernichten.«
Vermutlich log er nicht. Er konnte nur wenig, das aber gut. Maxim konnte das Dunkel sehen, noch die kleinsten Flecken in anderen Seelen ausmachen. Mehr noch, gerade dieses entstehende Dunkel sah er besonders gut.
»Wir bringen nicht einfach alle Dunklen um.«
»Warum nicht?«
»Wir haben Waffenruhe geschlossen, Maxim.«
»Wie kann man mit dem Dunkel Waffenruhe schließen?«
Ein Frösteln durchfuhr mich: In seiner Stimme lag nicht der geringste Zweifel.
»Jeder Krieg ist schlechter als der Friede.«
»Dieser nicht.«Maxim hob die Hand mit dem Dolch.»Siehst du den? Das ist ein Geschenk meines Freundes. Er ist gestorben, und daran sind vielleicht solche wie dieser Junge schuld. Das Dunkel ist heimtückisch!«
»Sagst du das mir?«
»Natürlich. Vielleicht bist du ja auch ein Lichter.«Sein Gesicht verzog sich zu einem bitteren Grinsen.»Nur ist euer Licht dann schon seit langem trübe geworden. Man darf dem Bösen nicht vergeben. Mit dem Dunkel keine Waffenruhe schließen.«
»Man darf dem Bösen nicht vergeben?«Jetzt war auch ich erbost. Und wie.»Als du den Dunklen Magier auf der Toilette erschlagen hast, warum bist du da nicht noch zehn Minuten geblieben? Warum hast du dir nicht angesehen, wie die Kinder schreien, wie seine Frau weint? Sie sind keine Dunklen, Maxim! Sondern ganz gewöhnliche Menschen, die nicht unsere Kräfte haben! Du hast die junge Frau vor den Kugeln gerettet…«
Er erschauerte, doch sein Gesicht wirkte nach wie vor wie gemeißelt.
»Das war großartig! Aber dass sie deinetwegen, wegen deiner Verbrechen umgebracht werden sollte - das wusstest du nicht!«
»Das ist der Krieg!«
»Den du angefangen hast«, zischte ich.»Du bist ja selbst noch ein Kind, mit deinem Spielzeugdolch. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, ja? Im großen Kampf für das Licht ist alles erlaubt?«
»Ich kämpfe nicht für das Licht.«Er hatte ebenfalls die Stimme gesenkt.»Nicht für das Licht, sondern gegen das Dunkel. Das ist alles, was ich kann. Verstehst du? Glaub ja nicht, mich würden die Späne nicht interessieren. Ich habe nicht um diese Kraft gebeten, nicht davon geträumt. Doch da ich sie nun einmal habe, muss ich sie auch nutzen.«
Wer hatte ihn bloß übersehen?
Warum hatten wir Maxim nicht in dem Moment aufgespürt, als er zum Anderen wurde?
Er hätte einen vorzüglichen Fahnder abgegeben. Nach langen Streitigkeiten und Erklärungen. Nach Monaten der Ausbildung, Jahren der Praxis, nach Misserfolgen, Fehlern, Besäufnissen und Selbstmordversuchen. Am Ende, wenn er die Regeln der Konfrontation nicht mit dem Herzen - denn das ist ihm nicht gegeben -, sondern mit seinem kalten, kompromisslosen Verstand akzeptiert hätte. Die Gesetze, nach denen das Licht und das Dunkel ihren Krieg austragen, die Gesetze, nach denen wir uns von einem Tiermenschen abwenden müssen, der ein Opfer verfolgt, und die eigenen Leute töten müssen, wenn sie sich nicht abwenden.
Jetzt stand er vor mir. Der Lichte Magier, der innerhalb einiger Jahre mehr Dunkle zur Strecke gebracht hatte als ein Fahnder in hundert Dienstjahren. Ein einsames, zu Tode gehetztes Tier. Das zu hassen vermag, aber nicht zu lieben.
Ich drehte mich um und packte Jegor bei den Schultern, der nach wie vor bloß dastand, ruhig, ohne sich zu rühren, und angespannt unserm Streit zuhörte. Zog ihn vor mich.
»Er ist also ein Dunkler Magier?«, fragte ich.»Vermutlich. Ich fürchte, du hast Recht. Noch ein paar Jahre, und dieser Junge realisiert seine Möglichkeiten. Wird durchs Leben gehen, während sich das Dunkel um ihn herum in Bewegung setzt. Mit jedem Schritt wird sein Leben leichter und leichter. Für jeden Schritt zahlt ein anderer mit seinen Schmerzen. Erinnerst du dich noch an das Märchen von der Meerjungfrau? Die Meerhexe hat ihr Beine gegeben, sodass sie gehen konnte, aber in ihre Füße schienen sich glühende Messer zu bohren. So ist es auch mit uns, Maxim! Wir gehen ständig über Messer, ohne uns daran zu gewöhnen. Nur dass Andersen nicht alles erzählt hat. Die Meerhexe hätte nämlich auch eine andere Möglichkeit gehabt. Die Meerjungfrau hätte laufen können, während die Messer jemand anderen gequält hätten. Das ist der Weg des Dunkels.«
»Meinen Schmerz ertrage ich selbst«, sagte Maxim. Und erneut keimte eine wahnsinnige Hoffnung in mir auf, er könne das alles doch verstehen.»Aber das darf nichts ändern.«
»Bist du bereit, ihn zu töten?«Ich nickte mit dem Kopf in Jegors Richtung.»Maxim, bist du das? Ich bin ein Mitarbeiter der Wache, ich kenne die Grenze zwischen Gut und Böse. Selbst wenn du Dunkle umbringst, kannst du etwas Böses anrichten. Also, bist du bereit, ihn umzubringen?«
Er zögerte nicht. Nickte. Sah mir voller Sanftmut und Freude in die Augen.»Ja. Ich bin bereit, denn ich weiche nie vor den Ausgeburten des Dunkels zurück. Auch diesmal nicht.«
Die unsichtbare Falle war zugeschnappt.
Ich hätte mich nicht gewundert, wenn Sebulon plötzlich neben uns gestanden hätte. Aus dem Zwielicht aufgetaucht und Maxim lobend auf die Schultern geschlagen hätte. Oder mir amüsiert zugelächelt.
Doch im nächsten Moment begriff ich, dass Sebulon nicht kommen würde. Niemals.
Die aufgestellte Falle musste nicht beobachtet werden. Die funktionierte auch so. Ich war hineingetappt, und jeder Mitarbeiter der Tagwache hatte für diesen Moment ein wasserdichtes Alibi.
Entweder erlaubte ich Maxim, den Jungen umzubringen, der ein Dunkler Magier werden würde. Dann würde ich zu seinem Komplizen - mit allen daraus resultierenden Folgen.
Oder ich ließ mich auf einen Kampf ein. Vernichtete den Wilden, letzten Endes ließen sich unsere Kräfte doch nicht vergleichen. Liquidierte eigenhändig meinen einzigen Zeugen und - als sei das nicht genug - brächte einen Lichten Magier um.
Denn Maxim würde nicht nachgeben. Das war sein Krieg, sein kleines Golgatha, seit ein paar Jahren schon schleppte er sich diesen Hügel hinauf. Für ihn gab es nur Sieg oder Tod.
Und warum sollte Sebulon selbst in den Kampf eingreifen?
Er hatte alles richtig gemacht. Die Reihen der Dunklen vom Ballast befreit, mich kompromittiert, mir Angst eingejagt, sogar etwas Dramatik ins Spiel gebracht, als er an mir vorbeischoss. Hatte mich dem Wilden in die Arme getrieben. Jetzt war Sebulon weit weg. Vielleicht noch nicht einmal in Moskau. Möglicherweise beobachtete er die Ereignisse: Es gibt genug
technische und magische Mittel, die das ermöglichen. Beobachtete und feixte sich eins.
Ich war reingefallen.
Was auch immer ich jetzt tat, ich würde im Zwielicht enden.
Das Böse ist nicht darauf angewiesen, das Gute eigenhändig zu vernichten. Wie viel leichter ist es, wenn man den Guten erlaubt, aufeinander loszugehen.
Die einzige Chance, die mir noch blieb, war verschwindend klein und ungeheuerlich gemein.
Würde nicht klappen.
Ich musste Maxim gestatten, den Jungen umzubringen, nun ja, nicht gestatten, sondern einfach nicht eingreifen. Danach würde er sich beruhigen. Würde mit mir zum Stab der Nachtwache gehen, sich alles anhören, streiten und verstummen, bezwungen von den knallharten Argumenten und der erbarmungslosen Logik des Chefs, würde verstehen, was er angerichtet, wie sehr er das brüchige Gleichgewicht verletzt hatte. Würde sich selbst dem Tribunal stellen, wo für ihn eine winzige, aber unbestreitbare Chance bestand, rehabilitiert zu werden.