Schließlich bin ich kein Fahnder. Ich habe getan, was in meiner Macht stand. Sogar das Spiel des Dunkels durchschaut, die Kombination, die sich jemand ausgedacht hatte, der bedeutend klüger ist als ich. Es mangelte mir einfach an Kraft, Zeit und Reaktionsvermögen.
Maxim schwang die Hand mit dem Dolch.
Die Zeit dehnte sich plötzlich, zog sich so in die Länge, als sei ich ins Zwielicht eingetreten. Nur dass die Farben nicht verblassten, sondern sogar aufleuchteten, und auch ich mich in diesem trägen breiigen Strom bewegte. Der Holzdolch sauste auf Jegors Brust zu, veränderte sich, glitzerte bald metallisch auf, hüllte sich bald in eine graue Flamme ein; in Maxims Gesicht spiegelte sich Konzentration, nur die in die Lippe gerammten Zähne zeugten von seiner Anspannung, während der Junge nichts begriff und noch nicht einmal versuchte fortzulaufen.
Als ich Jegor zur Seite schubste, wollten meine Muskeln mir nicht gehorchen, wollten keine so törichte und selbstmörderische Bewegung machen. Für ihn, den kleinen Dunklen Magier, bedeutete der Stoß des Dolchs den Tod. Für mich Leben. So war es immer, so würde es immer sein.
Was für einen Dunklen Leben bedeutet, ist für einen Lichten der Tod und umgekehrt. Das würde ich nicht ändern.
Geschafft!
Jegor fiel, stieß mit dem Kopf an die Haustür, sackte langsam zu Boden - ich hatte ihn zu stark gestoßen, hatte nur an seine Rettung gedacht, mich nicht um Verletzungen geschert.
In Maxims Augen funkelte der Ausdruck eines beleidigten Kindes auf.»Er ist ein Feind!«, brachte er dennoch hervor.
»Er hat nichts verbrochen!«
»Du verteidigst das Dunkel!«
Maxim stritt nicht darüber, ob ich ein Dunkler oder ein Lichter war. Das konnte er immerhin sehen.
Nur dass er weißer als weiß war. Er hatte nie die Alternative gesehen - ob ein Dunkler leben oder sterben sollte.
Der Dolch zielte jetzt nicht mehr auf den Jungen, sondern auf mich. Ich duckte mich, erblickte meinen Schatten und streckte mich, worauf dieser gehorsam auf mich zusprang.
Die Welt färbte sich grau ein, die Geräusche verstummten, die Bewegungen verlangsamten sich. Jegor, der sich eben noch gewälzt hatte, lag nun völlig reglos da, die Autos krochen unsicher über die Straße, die Räder drehten sich stoßweise, die Äste der Bäume hatten den Wind vergessen. Nur Maxim verlangsamte sich nicht.
Er kam mir nach, ohne es selbst zu wissen. Glitt mit derselben Unbedarftheit ins Zwielicht, mit der ein Mensch vom Gehsteig auf die Straße tritt. Ihm war jetzt alles egaclass="underline" Er schöpfte Kraft aus seiner Überzeugung, seinem Hass, diesem lichten, ja helllichten Hass, aus der Wut des weißen Lichts. Er war nicht einmal ein Henker der Dunklen. Sondern ein Inquisitor. Weitaus schrecklicher als unsere gesamte Inquisition.
Ich riss die Hände hoch, spreizte die Finger im Zeichen der Kraft, dem einfachen und doch so effektiven - von den jungen Anderen beim ersten Mal stets verlachten -»Fingerfächer«. Maxim hielt nicht inne - schwankte nur ganz leicht, senkte dann aber stur den Kopf und kam weiter auf mich zu. Während ich zu begreifen begann, trat ich zurück und versuchte fieberhaft, mich an das magische Repertoire zu erinnern.
Agape - das Zeichen der Liebe; doch an die Liebe glaubt er nicht.
Der Dreifachschlüssel - bringt Glaube und Verständnis hervor; aber er glaubt mir nicht.
Opium - das fliederfarbene Symbol, der Traumpfad; schon spürte ich, wie meine eigenen Lider schwer wurden.
So also besiegt er die Dunklen. Sein rasender Glaube, verwoben in seinen verborgenen Fähigkeiten als Anderer, dient gleichsam als Spiegel. Wirft den erlittenen Schlag zurück. Bringt ihn auf das Niveau des Gegners. Zusammen mit der Fähigkeit, das Dunkel zu sehen, und dem idiotischen magischen Dolch macht ihn das beinah unverletzlich.
Nein, alles vermag er freilich nicht widerzuspiegeln. Die Schläge werden nicht sofort zurückgeworfen. Das Zeichen des Thanatos oder das weiße Schwert dürften funktionieren.
Nur dass ich mich auch umbringen würde, wenn ich ihn tötete. Den einzigen Weg einschlüge, der uns allen bevorsteht: ins Zwielicht. In die trüben Träume, das farblose Blendwerk, die ewige dunstige Kälte. Meine Kräfte reichten nicht aus, um in ihm einen Feind zu sehen - zu dem er mich ja ohne zu zögern erklärt hatte.
Wir umkreisten einander, mitunter machte Maxim einen Ausfall, jedoch ungeschickt, denn er hatte nie richtig gekämpft, war es gewohnt, seine Opfer schnell und einfach umzubringen. Und irgendwo aus weiter Ferne hörte ich Sebulons höhnisches Lachen.
»Du wolltest ein Spiel gegen das Dunkel wagen?«, sagte er mit weicher, einschmeichelnder Stimme.»Nur zu. Du hast alles, was du brauchst. Feinde, Freunde, Liebe und Hass. Wähl deine Waffe. Welche du willst. Den Ausgang kennst du ohnehin schon. Jetzt kennst du ihn.«
Vielleicht hatte ich mir diese Stimme nur eingebildet.
Vielleicht erklang sie aber auch wirklich.
»Du bringst dich um!«, schrie ich. Das Halfter schlug gegen meinen Körper, als verlange es, dass ich die Pistole herausnahm und einen Schwarm kleiner silberner Wespen auf Maxim losließ. Genauso leicht, wie ich es vorhin bei meinem Namensvetter getan hatte.
Er hörte mich nicht - das war ihm nicht gegeben.
Sweta, du wolltest unbedingt wissen, wo die Hürden für uns aufgestellt sind, wo die Grenze ist, an der wir in unserem Kampf gegen das Dunkel innehalten müssen. Warum bist du jetzt nicht hier? Dann würdest du es sehen und verstehen.
Es war überhaupt niemand hier, weder Dunkle, um sich aus vollem Herzen an diesem Duell zu ergötzen, noch Lichte, um zu helfen, sich auf Maxim zu stürzen, ihn zu fesseln, unseren tödlichen Zwielicht-Tanz zu beenden. Nur der ungelenk aufstehende Junge, der zukünftige Dunkle Magier, und der unerbittliche Henker mit den gemeißelten Gesichtszügen, jener ungeru-fene Paladin des Lichts. Der nicht weniger Böses angerichtet hatte als ein Dutzend Tiermenschen oder Vampire.
Ich raffte den kalten Nebel zusammen, der mir durch die Finger strömte. Erlaubte ihm, an meinen Fingern zu saugen. Und schickte ein wenig mehr Kraft in die rechte Hand.
Ein weißer Feuerkeil erwuchs aus meinem Handteller. Das Zwielicht fauchte, flammte auf. Ich zog das weiße Schwert, eine einfache und effektive Waffe. Maxim erstarrte.
»Das Gute, das Böse.«Ein neues, schiefes Grinsen zeichnete sich auf meinem Gesicht ab.»Komm zu mir. Komm her, und ich töte dich. Selbst wenn du hundertmal ein Lichter bist, darum geht es gar nicht.«
Bei jedem anderen hätte das gewirkt. Bestimmt. Man muss sich das vorstellen: zum ersten Mal zu sehen, wie aus dem Nichts eine Feuerklinge auftaucht. Aber Maxim kam weiter auf mich zu.
Überwand die fünf Schritte, die uns trennten. Gelassen, mit glatter Stirn, ohne auf das weiße Schwert zu achten. Während ich dastand und immer wieder in Gedanken wiederholte, was sich so leicht und überzeugend laut sagte.
Dann drang der Holzdolch zwischen meine Rippen ein.
In weiter Ferne brach Sebulon, das Oberhaupt der Tagwache, in seiner Höhle in schallendes Gelächter aus.
Ich fiel erst auf die Knie, dann auf den Rücken. Presste die Hand auf die Brust. Es schmerzte, bislang schmerzte es nur. Das Zwielicht winselte empört auf, als es das lebende Blut spürte, und wich auseinander.