Der kleine Mann mit der Melone und der Aktentasche bahnte sich seinen Weg durch die Masse, unzählige Entschuldigungen in nicht sehr sauberem Russisch murmelnd, zog den Kopf ein und sah sich um. An einer Straßenunterführung lief er vorbei, zuckte mit dem Kopf mal in die eine, mal in die andere Richtung, steuerte dann auf eine andere Unterführung zu, blieb an einer Reklametafel stehen, an der es weniger Gedrängel gab, und zog, seine Sachen umständlich an die Brust pressend, einen zerknitterten Zettel heraus, den er sorgsam studierte. Auf dem Gesicht des Asiaten spiegelte sich nicht der Schatten eines Verdachts wider, dass man ihn verfolgen könnte.
Was den dreien, die an der Mauer des Bahnhofsgebäudes lehnten, nur zupass kam. Eine attraktive, auffällige Frau mit roten Haaren in einem eng anliegenden Seidenkleid, ein angepunkter Typ mit verblüffend gelangweilten und alten Augen, ein älterer Mann mit langem gegelten Haar und dem Gebaren eines Schwulen.
»Eher nicht«, sagte der Punk mit den alten Augen zweifelnd.»Glaub nicht, dass der das ist. Ist zwar schon lange her, dass ich ihn gesehen habe, und das auch nur kurz, aber…«
»Sollen wir etwa bei Dshoru nachfragen?«, fragte die Frau lachend.»Ich seh doch, dass er es ist.«
»Übernimmst du die Verantwortung?«Den Punk irritierte weder ihr Einwand, noch wollte er sich streiten. Sondern nur diese Frage klären.
»Ja.«Die Frau wandte den Blick nicht von dem Asiaten.»Gehen wir. Wir schnappen ihn uns in der Unterführung.«
Mit langsamen synchronen Schritten lösten sie sich von der Mauer. Dann trennten sie sich, die Frau ging weiter geradeaus, die beiden Männer nach links und rechts.
Der kleine Mann faltete den Zettel zusammen und lief unsicher auf die Unterführung zu.
Ein Moskauer oder ein häufiger Gast der Hauptstadt hätte sich über die plötzliche Menschenleere gewundert. Immerhin ist das hier der kürzeste und bequemste Weg von der Metro zum Bahnhof. Aber der kleine Mann achtete nicht darauf. Dass die Menschen hinter ihm stehen blieben, als seien sie gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen, und zu anderen Unterführungen gingen, bemerkte er nicht. Dass auf der anderen Seite der Unterführung im Bahnhof das Gleiche passierte, konnte er nicht sehen.
Ihm kam ein lächelnder Schnösel entgegen. Von hinten holten ihn eine sympathisch wirkende junge Frau und ein schlampig gekleideter Typ mit einem Ohrring und zerschlissenen Jeans ein.
Der Asiat ging weiter.
»Bleib doch stehen, Väterchen«, sagte der Schnösel friedfertig. Seine Stimme passte zu seinem Äußeren, klang zart und manieriert.»Renn doch nicht so.«
Der Asiat deutete lächelnd ein Nicken an, blieb aber nicht stehen.
Der Schnösel fuchtelte mit dem Arm, als zöge er einen Strich zwischen sich und dem kleinen Mann. Die Luft erbebte, der Atem des kalten Winds fegte durch die Unterführung. Irgendwo auf dem Bahnhof weinten Kinder, winselte ein Hund.
Der kleine Mann blieb stehen und blickte nachdenklich nach vorn. Er spitzte die Lippen, pustete und schenkte dem vor ihm stehenden Mann ein schlaues Lächeln. Es klirrte leise, als ginge unsichtbares Glas zu Bruch. Das Gesicht des Schnösels verzerrte sich unter Schmerzen, er wich einen Schritt zurück.
»Bravo, Devona«, sagte die Frau, die hinter dem Asiaten stehen geblieben war.»Aber jetzt solltest du wirklich nichts überstürzen.«
»Ich hab’s eilig, und wie«, haspelte der kleine Mann hervor. Er schielte über die Schulter.»Möchtest du eine Melone, meine Schöne?«
Die Frau lächelte und sah den Asiaten an.»Kommst du mit uns mit, Verehrtester?«, fragte sie.»Wir setzen uns irgendwo gemütlich hin. Essen deine Melone, trinken Tee. Wir haben so lange auf dich gewartet, da ist es nicht lieb, gleich wieder wegzurennen.«
Die Miene des kleinen Mannes spiegelte angespannte Gedankenarbeit wider.»Gehen wir, gehen wir«, nickte er schließlich.
Sein erster Schritt haute den Lackaffen um. Als ob der Asiat einen unsichtbaren Schild vor sich hertrüge, eine Mauer, keine materielle, sondern eher aus tosendem Wind. Der Schnösel wurde über den Boden geschleift, die langen Haare breiteten sich aus, die Augen verengten sich, seiner Kehle entrang sich ein lautloser Schrei.
Der Punk wedelte mit der Hand - und purpurrote Lichtreflexe schlugen auf den kleinen Mann ein. Blendend helle, die sich nur schwer vom Handteller lösten, auf halber Strecke verblassten und den Rücken des Asiaten als kaum noch zu erkennendes Leuchten erreichten.
»Ai-ai-ai«, sagte der kleine Mann, ohne stehen zu bleiben. Er zuckte ein paarmal mit den Schulterblättern, als habe sich eine lästige Fliege auf seinem Rücken niedergelassen.
»Alissa!«, schrie der Punk auf, ohne sein nutzloses Tun aufzugeben. Seine Finger bewegten sich, knüllten die Luft zusammen, entrissen ihr Klumpen des purpurroten Lichts und schleuderten sie gegen den Asiaten.»Alissa!«
Die Frau neigte den Kopf, sah dem fortgehenden Asiaten hinterher. Leise flüsterte sie etwas, während sie mit der Hand über das Kleid fuhr - und in ihrer Hand tauchte wer weiß woher ein dünnes durchscheinendes Prisma auf.
Der kleine Mann beschleunigte den Schritt, hastete von links nach rechts, bog auf komische Weise den Kopf. Der Schnösel vor ihm wälzte sich immer noch, unterließ mittlerweile aber jeden Versuch zu schreien. Sein Gesicht schwamm in Blut, Arme und Beine waren gebrochen und gehorchten nicht, als ob er nicht drei Meter über den glatten Boden gerollt wäre, sondern von einem wahnsinnigen Sturm oder einem galoppierenden Pferd drei Kilometer durch steinige Steppe geschleift worden sei.
Die Frau betrachtete den kleinen Mann durch das Prisma.
Erst verlangsamte der Asiat nur den Schritt. Dann ächzte er auf und spreizte die Hände - die Melone zerbarst auf dem Marmorfußboden, seine Aktentasche schlug dumpf und schwer auf.
»Och«, sagte der Asiat, den die Frau einen Devona genannt hatte.»Och, och.«
Der kleine Mann sank in sich zusammen, begann sich bereits im Moment des Sturzes zu krümmen. Die Wangen fielen ihm ein, die Wangenbeine spitzten sich, die nunmehr greisenhaft dünnen Hände umspannte ein Netz von Adern. Das schwarze Haar bleichte zwar nicht aus, überzog sich aber mit grauem Staub und lichtete sich. Die Luft um ihm herum erbebte - unsichtbare heiße Ströme flossen auf Alissa zu.
»Was ich nicht gegeben habe, wird fortan mein sein«, flüsterte die Frau.»Alles, was dein ist, ist mein.«
Die Röte floss ihr so schnell ins Gesicht, wie der kleine Mann austrocknete. Mit schmatzenden Lippen flüsterte sie tonlose, seltsam klingende Worte. Der Punk verzog das Gesicht, ließ die Hand sinken - der letzte purpurrote Strahl schlug in den Boden ein, brachte den Stein zum Glühen.
»Ziemlich einfach«, sagte er.»Echt.«
»Der Chef war gar nicht zufrieden«, sagte die Frau, während sie das Prisma in den Falten ihres Kleides versteckte. Lächelte. Ihr Gesicht verströmte die Kraft und Energie, die einige Frauen nach stürmischem Geschlechtsverkehr zeigen.»Leicht, aber unser Kolja hat Pech gehabt.«
Der Punk nickte und betrachtete den reglosen Körper des langhaarigen Mannes. Besonderes Mitleid lag nicht in seinem stumpfen Blick, übrigens auch keine besondere Feindseligkeit.