»Kannst du laut sagen«, kommentierte er. Sicheren Schrittes trat er an die vertrocknete Leiche heran. Machte mit der Hand eine Bewegung darüber, worauf der Körper zu Staub zerfiel. Mit der nächsten Geste verwandelte der Punk die zerplatzte Melone in klebrigen Brei.
»Die Aktentasche«, befahl die Frau.»Überprüf die Tasche.«
Der Punk wedelte mit der Hand - das abgegriffene Kunstleder barst, die Aktentasche sprang auf wie eine Muschel unter dem Messer eines kundigen Tauchers. Der Blick des Punks ließ jedoch darauf schließen, dass sie nicht die erhoffte Perle enthielt. Zwei Paar Garnituren verwaschener Unterwäsche, eine billige Trainingshose aus Baumwolle, ein weißes Hemd, eine Polyethy-lentüte mit Gummilatschen, ein Plastikbecher mit koreanischer Fertig-Nudelsuppe und ein Brillenetui.
Der Punk vollführte noch ein paar Passes, ließ den Plastikbecher aufplatzen, die Kleidung an den Nähten zerreißen, das Etui sich öffnen. Fluchte.
»Er ist leer, Alissa! Völlig leer.«
In die Züge der Hexe schlich sich nach und nach Erstaunen.»Aber das ist doch der Devona, Stassik. Der Kurier hätte die Fracht niemandem anvertrauen können.«
»Hat er anscheinend aber doch«, entgegnete der
Punk, während er mit dem Fuß durch die Asche des Asiaten fuhr.»Hab ich dich nicht gewarnt, Alissa? Bei den Lichten muss man mit allem rechnen. Du hast die Verantwortung übernommen. Vielleicht bin ich ja nur ein schwacher Magier. Aber ich habe ein halbes Jahrhundert mehr Erfahrung als du.«
Alissa nickte. Die Verwirrung war bereits aus ihren Augen verschwunden. Ihre Hand huschte abermals über ihr Kleid, suchte das Prisma.»Ja«, stimmte sie sanft zu.»Du hast Recht, Stassik. Aber in fünfzig Jahren habe ich genauso viel Erfahrung wie du.«
Der Punk lachte auf, hockte sich neben die Leiche des langhaarigen Mannes und durchstöberte rasch die Taschen.»Glaubst du?«
»Ich bin mir sicher. Du hättest nicht auf deinem Standpunkt bestehen sollen, Stassik. Schließlich hatte ich vorgeschlagen, auch die anderen Mitreisenden zu kontrollieren.«
Der junge Mann drehte sich zu spät um, als in einem Dutzend unsichtbarer heißer Fäden das Leben aus seinem Körper zu weichen begann.
Eins
Das Oldsmobil war alt, gefiel mir aber gerade deshalb. Nur gegen die Hitze, diese Wahnsinnshitze der Straße, die sich seit Tagen aufgeheizt hatte, halfen selbst die offenen Fenster nichts. Hier brauchte man eine Klimaanlage.
Ilja teilte diese Ansicht offenbar. Er saß am Steuer, lenkte mit einer Hand, sah sich alle naslang um und unterhielt sich mal mit diesem, mal mit jenem. Ein Magier seines Ranges sah natürlich alle Wahrscheinlichkeiten etwa zehn Minuten voraus, weshalb es zu keinem Unfall kommen würde. Dennoch war mir ziemlich mulmig zumute.
»Ich wollte eine Klimaanlage einbauen«, sagte er in schuldbewusstem Ton zu Julja. Das Mädchen litt mehr als alle andern unter der Hitze, auf ihrem Gesicht leuchteten hässliche rote Flecken, ihre Augen blickten trübe. Als müsse sie sich übergeben.»Aber das würde den Wagen total verunstalten. Der ist dafür einfach nicht gemacht! Keine Klimaanlage, keine Handys, keine Bordcomputer!«
»Hmmh«, sagte Julja. Sie rang sich ein Lächeln ab. Gestern hatten wir Überstunden geschoben, niemand war vor fünf Uhr morgens ins Bett gekommen, und geschlafen hatten wir gleich im Büro. Natürlich war es eine Schweinerei, ein dreizehnjähriges Mädchen wie eine Erwachsene zu behandeln. Allerdings wollte sie selbst es so, gezwungen hatte sie niemand.
Swetlana, die vorn saß, blickte Julja besorgt an. Dann schnellte ihr Blick voller Missbilligung zu Semjon hinüber. Fast hätte sich der unerschütterliche Magier daraufhin an seiner Jawa verschluckt. Er inhalierte, und der durch das Auto wallende Zigarettenqualm verschwand in seinen Lungen. Dann schnippte er die Kippe aus dem Fenster. Mit der Jawa zollte er der allgemeinen Meinung im Grunde bereits Tribut, denn seit kurzem bevorzugte er Poljot und andere grauenvolle Tabaksorten.
»Schließt die Fenster«, bat Semjon.
Kurz darauf fiel die Temperatur im Auto deutlich. Ein leichter Geruch nach salzigem Meer hing in der Luft. Ich merkte sogar, dass es ein Meer bei Nacht war und in nicht allzu weiter Ferne lag, ein Ufer irgendwo auf der Krim. Jod, Algen, ein Hauch von Beifuß. Das Schwarze Meer. Koktebel.
»Koktebel?«, fragte ich.
»Jalta«, erwiderte Semjon lakonisch.»10. September 1972, etwa drei Uhr nachts. Nach einem leichten Sturm.«
Ilja schnalzte neidisch mit der Zunge.
»Alle Achtung!«, sagte er.»Und dieses Bouquet hast du bis heute nicht verbraucht?«
Julja blickte Semjon mit schuldbewusster Miene an. Die Klimakonservierung bereitete allen Magiern Schwierigkeiten, und das jetzt von Semjon offerierte Bouquet an Empfindungen hätte jedes gesellige Beisammensein bereichert.
»Vielen Dank, Semjon Pawlowitsch.«Aus irgendeinem Grund schüchterte er das Mädchen genauso ein wie der Chef, weshalb sie ihn immer mit Vor- und Vatersnamen ansprach.
»Nicht der Rede wert«, erwiderte Semjon gelassen.»Ich habe noch einen Taigaregen von 1913 in meiner Sammlung oder einen Taifun von ‘40, einen Frühlingsmorgen in Jurmala von ‘56 und vermutlich auch noch einen Winterabend in Gagry.«
Ilja lachte.»Einen Winterabend in Gagry - vergiss es. Aber der Taigaregen…«
»Den tausch ich nicht«, erteilte Semjon ihm sofort einen Dämpfer.»Ich kenne deine Sammlung, du hast nichts, was sich mit ihm messen könnte.«
»Aber wenn ich dir dafür zwei, nein, drei…«
»Ich schenk ihn dir«, schlug Semjon vor.
»Kommt gar nicht in Frage«, gab sich Ilja gekränkt und zerrte am Lenkrad.»Was sollte ich dir denn dafür zurückschenken?«
»Dann entkonserviere ich ihn.«
»Na, vielen Dank auch.«
Natürlich, er schmollte. Meiner Ansicht nach ließen sich die Fähigkeiten der beiden gut vergleichen, vielleicht war Ilja sogar ein wenig stärker. Dafür besaß Semjon ein Gespür für den Moment, der es wert war, magisch bewahrt zu werden. Außerdem vergeudete er seine Sammlung nicht in banalen Situationen.
Gewiss, unter bestimmten Gesichtspunkten wirkte die gerade von ihm vollbrachte Tat verschwenderisch: die letzte halbe Stunde Fahrt in der Hitze mit einem derart wertvollen Gebinde an Gefühlen erträglicher zu machen.
»Ja, ein Abend, wo man Schaschlik grillt, diesen Nektar müsste man atmen«, sagte Ilja. Mitunter kann er seltsam dickfällig sein. Julja spannte ihre Kräfte an.
»Ich erinner mich noch, wie ich einmal im Orient war«, sagte Semjon plötzlich.»Unser Hubschrauber… Kurz gesagt, wir gingen zu Fuß. Die technischen Kommunikationsmittel hatten den Geist aufgegeben, magische anzuwenden, wäre in etwa so gewesen, als laufe jemand in Harlem mit dem Transparent Schlagt die Nigger! herum. Wir also zu Fuß durch die Wüste von Hadramaut. Bis zu unserm Mann vor Ort war es nicht mehr weit, hundert Kilometer, vielleicht hundertzwanzig. Aber wir waren am Ende unserer Kräfte. Hatten kein Wasser mehr. Plötzlich sagt Aljoschka, ein guter Junge, der jetzt im Baltikum arbeitet: Ich kann einfach nicht mehr, Semjon Pawlowitsch, ich habe eine Frau und zwei Kinder zu Hause, ich will zurück. Dann legt er sich in den Sand und entkonserviert seine geheimen Vorräte. Er hatte einen Platzregen. Etwa zwanzig Minuten kübelt es. Wir haben uns satt getrunken, die Flaschen gefüllt, uns wieder aufgerappelt. Am liebsten hätte ich ihm die Fresse poliert, dass er früher nichts davon gesagt hatte, aber er tat mir Leid.«