Nach dieser langen Rede breitete sich im Wagen minutenlanges Schweigen aus. Selten gab Semjon die Ereignisse seines stürmischen Lebens so beredt wider.
Als Erster sagte Ilja etwas.»Und warum hast du deinen Taigaregen nicht spendiert?«
»Vergleich die beiden doch mal«, schnaubte Semjon.»Mein Regen aus der Kollektion stammt von 1913, der Frühlingsschauer kommt aus Moskau, hat nichts Besonderes an sich und stinkt obendrein nach Benzin. Und?«
»Alles klar.«
»Eben. Alles hat seine Zeit und seinen Ort. Der Abend, an den ich mich erinnert habe, war angenehm. Aber nicht herausragend. Passt zu deinem Klapperkasten.«
Swetlana lachte leise. Die leichte Anspannung, die im Auto gehangen hatte, verflüchtigte sich.
Die ganze Woche war die Nachtwache wie elektrisiert gewesen. Irgendwie passierte in Moskau nichts Besonderes, nur ganz normale Routinearbeit. Über der Stadt lastete eine Hitze, wie es sie noch nie im Juni gegeben hatte, und irgendwelche Zwischenfälle wurden kaum gemeldet. Das schmeckte weder den Lichten noch den Dunklen.
Rund vierundzwanzig Stunden lang hatten unsere Analytiker an einer Version gebastelt, wonach die überraschende Hitze auf die Vorbereitungen einer Aktion zurückgehe, die die Dunklen planten. Vermutlich untersuchte man parallel dazu in der Tagwache, ob die Lichten Magier nicht auf das Wetter eingewirkt hätten. Nachdem jedoch beide Seiten die natürlichen Gründe der klimatischen Eskapaden eingestehen mussten, blieb ihnen überhaupt nichts mehr zu tun.
Die Dunklen verhielten sich so still wie vom Regen geplagte Fliegen. Entgegen allen Vorhersagen der Ärzte sank die Zahl der Unfälle und natürlichen Todesfälle in der Stadt. Den Lichten stand der Sinn ebenfalls nicht nach Arbeit, die Magier stritten sich wegen Kleinigkeiten, auf die simpelsten Dokumente aus den Archiven musste man einen halben Tag warten, und sobald man die Analytiker um eine Wettervorhersage bat, polterten sie böse los:»Reichen euch vierzig Tage?«Boris Ignatjewitsch stromerte wie von Sinnen durchs Büro. Ungeachtet seiner orientalischen Vergangenheit und seiner Herkunft machte selbst ihm die Moskauer Variante der Hitze zu schaffen. Gestern Morgen, am Donnerstag, hatte er dann alle Mitarbeiter zusammengerufen, gemäß einer Anordnung der Wache zwei Freiwillige zu seiner Unterstützung benannt und den anderen befohlen, die Hauptstadt zu verlassen. Sollten sie irgendwohin fahren, auf die Malediven, nach Griechenland, dem Teufel in der Hölle einen Besuch abstatten - selbst da dürfte es angenehmer sein - oder auf eine Datscha außerhalb der Stadt fliehen. Vor Montagmittag wollte er niemanden im Büro sehen.
Der Chef hielt genau eine Minute inne, bis auf allen Gesichtern ein glückliches Lächeln lag, um dann hinzuzufügen, dieses unerwartete Glück müsse gut verdient sein. Durch eine Sonderschicht. Damit wir uns hinterher nicht der müßig verbrachten Tage zu schämen brauchten. Damit es bei den Strugazkis nicht umsonst hieße: Der Montag fängt am Samstag an, sollten wir, um die drei Tage Urlaub zu bekommen, alle noch anstehende Routinearbeit in der verbleibenden Zeit erledigen.
Was wir auch taten. Einige arbeiteten fast die ganze Nacht durch. Wir überprüften die Dunklen, die in der Stadt geblieben waren und unter besonderer Kontrolle standen: Vampire, Tiermenschen, Inkubi und Sukkubi, aktive Hexen sowie andere ruhelose Zeitgenossen aus den niederen Rängen. Alles war in Ordnung. Die Vampire gierten momentan nicht nach heißem Blut, sondern kaltem Bier. Die Hexen plagten sich nicht damit, ihren Nachbarn Schaden zuzufügen, sondern einen leichten Regenschauer über Moskau herbeizuzaubern.
Dafür kamen wir jetzt aus Moskau raus. Natürlich nicht auf die Malediven, da hatte der Chef die Großzügigkeit unserer Buchhaltung etwas überschätzt. Aber auch zwei, drei Tage auf dem Lande haben ihren Reiz. Die armen Freiwilligen, die beim Chef in der Hauptstadt geblieben waren, um ihn zu hüten und zu bewachen.
»Ich muss zu Hause anrufen«, sagte Julja. Sie war sehr viel munterer geworden, seit Semjon die im Auto herrschende Hitze durch Meeresfrische ersetzt hatte.»Gib mir mal das Handy, Sweta.«
Ich genoss die Kühle ebenfalls. Schaute auf die Autos, die wir überholten: In der Regel waren die Fenster heruntergelassen, und man blickte voller Neid auf uns, in dem irrigen Glauben, das alte Automobil sei mit einer tüchtigen Klimaanlage ausgestattet.
»Wir müssen bald abbiegen«, sagte ich zu Ilja.
»Ich weiß. Ich kenn die Strecke.«
»Pst!«, flüsterte Julja mit furchteinflößender Stimme. Und dann flötete sie ins Telefon:»Mamotschka, ich bin’s! Ja, wir sind schon da. Natürlich ist es schön! Es gibt einen See, nein, einen flachen. Mamotschka, ich kann nur kurz sprechen, Swetas Vater hat mir sein Handy geliehen. Nein, sonst niemand. Sweta? Hier.«
Sweta seufzte und nahm dem Mädchen das Handy ab. Finster blickte sie mich an, während ich versuchte, ernst dreinzublicken.
»Guten Tag, Tante Natascha«, sagte Sweta mit zarter Kinderstimme.»Ja, wir freuen uns sehr. Ja. Nein, mit den Erwachsenen. Mama ist gerade nicht da, soll ich sie holen? Ja, das sag ich ihr. Ganz bestimmt. Auf Wiedersehen.«
Sie beendete das Gespräch.
»Und was, mein Mädchen, passiert, wenn deine Mutter die richtige Sweta fragt, wie euer Wochenende war?«, wollte Sweta wissen.
»Dann wird Sweta sagen, dass es schön war.«
Swetlana stieß scharf die Luft aus und sah Semjon an, als erhoffe sie sich von ihm Unterstützung.
»Der Einsatz magischer Fähigkeiten für persönliche Ziele kann unvorhersehbare Folgen haben«, dozierte Semjon in amtlichem Ton.»Ich kann mich noch erinnern, wie…«
»Was denn für magische Fähigkeiten?«, wunderte sich Julja aufrichtig.»Ich habe ihr gesagt, dass ich mit Freunden einen draufmachen möchte, und sie gebeten mitzuspielen. Erst hat Sweta zwar gestöhnt, dann aber natürlich zugestimmt.«
Hinterm Steuer kicherte Ilja.
»Das musste ich sagen«, empörte sich Julja, die nicht verstand, was daran so komisch sein sollte.»So machen die Menschenkinder das schließlich. Warum lacht ihr denn bloß alle so? Na?«
Bei jedem von uns Wächtern nimmt die Arbeit viel Platz im Leben ein. Nicht, weil wir begeisterte Arbeitstiere wären - welcher klar denkende Mensch zieht schon die Arbeit der Freizeit vor? Auch nicht, weil unsere Arbeit so außerordentlich interessant ist, größtenteils langweilen wir uns auf Streife oder sitzen uns im Büro den Hosenboden durch. Nein, es fehlt uns einfach an Leuten. Die Tagwache schließt die Lücken weitaus schneller, jeder Dunkle drängt sich nach der Möglichkeit, Macht auszuüben. Bei uns dagegen sieht die Situation ganz anders aus.
Trotzdem pflegt jeder von uns neben der Arbeit sein eigenes kleines Leben, das wir mit niemandem teilen: nicht mit dem Licht, nicht mit dem Dunkel. Das gehört nur uns. Dieses kleine bisschen Leben, das wir zwar nicht verstecken, aber auch nicht zur Schau stellen und das wir aus unserem früheren Menschendasein mitgebracht haben.
Der eine geht auf Reisen, sobald sich ihm nur die kleinste Gelegenheit dazu bietet. Ilja zum Beispiel bevorzugt normale Touren, während Semjon trampt. Er hat schon mal die ganze Strecke von Moskau nach Wladiwostok ohne eine Kopeke in Rekordzeit hinter sich gebracht, ließ sich danach aber dennoch nicht bei der Liga der Autostopper registrieren, weil er unterwegs zweimal auf seine magischen Fähigkeiten zurückgegriffen hatte.
Ignat - und nicht nur er allein - versteht unter Erholung nichts anderes als sexuelle Abenteuer. Diese Phase machen fast alle durch, denn das Leben bietet einem Anderen weit mehr als den Menschen. Dass die Menschen sich, wenn auch unbewusst, stark zu den Anderen hingezogen fühlen - selbst wenn diese darauf keinen Wert legen -, ist eine bekannte Tatsache.