Die Eule zeigte jedoch keinerlei Reaktion. Sie pfiff sowohl auf die Spatzen als auch auf die Raben - genauer, sie hätte es, wenn sie gekonnt hätte.
»Was bist du denn für eine?«, murmelte ich, während ich das Fenster öffnete und dabei erbarmungslos das Papier zerriss, das im Winter gegen Zugluft über die Rahmen geklebt war. Der Chef hat seltsame Vorstellungen von meinem Partner… meiner Partnerin…
Mit einem Flügelschlag kam die Eule ins Zimmer geflogen, setzte sich auf den Kleiderschrank und schloss die Augen bis auf einen Spalt. Als ob sie schon ein Jahrhundert hier gelebt hätte. Ob sie sich unterwegs verkühlt hatte? Wohl kaum, schließlich war sie eine Schnee-Eule.
Während ich mich daran machte, das Fenster wieder zu schließen, dachte ich darüber nach, was ich als Nächstes tun sollte. Wie sollte ich mit ihr kommunizieren, wie sie füttern, und wie, bitte schön, sollte dieses gefiederte Wesen in der Lage sein, mir zu helfen?
»Du heißt also Olga?«, fragte ich, nachdem ich mit dem Fenster fertig war. Durch die Ritzen zog es zwar noch, doch das konnte warten.»He, Vogel!«
Die Eule öffnete das eine Auge ein wenig weiter. Sie scherte sich um mich fast genauso wenig wie um die wuseligen Spatzen.
Mit jedem Augenblick kam ich mir blöder vor. Erstens kriegte ich hier einen Partner präsentiert, mit dem ich nicht kommunizieren konnte. Und zweitens war es ja eine Frau!
Wenn auch eine Eule.
Ob ich mir Hosen anziehen sollte? Ich stand vor ihr, mit nichts weiter an als meinen verknautschten Unterhosen, unrasiert, verschlafen…
Ich kam mir wie der letzte Idiot vor, als ich meine Sachen zusammensuchte und aus dem Zimmer stolperte.»Entschuldigen Sie, ich bin gleich wieder da«, rief ich der Eule beim Hinausstürzen zu - der Pinselstrich, der mein Porträt vollendete.
Wenn dieser Vogel tatsächlich das war, was ich vermutete, hatte ich nicht gerade den besten Eindruck gemacht.
Eigentlich wollte ich unbedingt duschen, doch eine solche Zeitverschwendung durfte ich mir nicht leisten. Es musste reichen, wenn ich mich rasierte und mir den dröhnenden Schädel unter kaltes Wasser hielt. Auf einem Regal fand ich zwischen diversen Shampoos und
Deos etwas Eau de Cologne, das ich normalerweise nicht benutze.
»Olga?«, rief ich, während ich den Flur hinunterblickte.
Ich entdeckte die Eule in der Küche, auf dem Kühlschrank. Wie tot saß sie da, ein ausgestopfter Vogel, der hier zum Scherz aufgestellt worden war. Fast wie beim Chef in der Vitrine.
»Lebst du?«, fragte ich.
Missmutig sah mich ein bernsteingelbes Auge an.
»Schon gut.«Ich breitete die Arme aus.»Fangen wir von vorn an? Mir ist völlig klar, dass ich keine sonderlich gute Figur abgegeben habe. Und ich gestehe es ein: Das ist bei mir chronisch.«
Die Eule horchte auf.
»Ich weiß nicht, wer du bist.«Ich schnappte mir einen Hocker und setzte mich vor den Kühlschrank.»Und du kannst es mir auch nicht sagen. Immerhin kann ich mich dir vorstellen. Ich bin Anton. Vor fünf Jahren hat sich herausgestellt, dass ich ein Anderer bin.«
Der Laut, den die Eule von sich gab, erinnerte noch am ehesten an ein unterdrücktes Lachen.
»Ja«, bekräftigte ich.»Erst vor fünf Jahren. Doch so was kommt vor. Ich hatte ungeheure Schwellenangst. Wollte die Zwielicht-Welt einfach nicht sehen. Und habe sie auch nicht gesehen. Zumindest so lange nicht, bis mir der Chef über den Weg gelaufen ist.«
Offenbar interessierte die Eule das schon mehr.
»Damals führte er eine praktische Übung durch. Er hat den Außendienstarbeitern beigebracht, wie man unerkannte Andere ausfindig macht. Dabei bin ich ihm über den Weg gelaufen…«Bei der Erinnerung musste ich grinsen.»Natürlich hat er meine Abschirmung durchbrochen. Alles andere war dann das reinste Kinderspiel… Ich habe den Adaptionskurs absolviert und danach in der analytischen Abteilung angefangen. Wobei… es eigentlich keine nennenswerten Änderungen in meinem Leben gab. Ich wurde ein Anderer, ohne es selbst zu merken. Dem Chef hat das zwar nicht gepasst, aber er hat keinen Ton gesagt. Meine Arbeit mache ich gut - und alles andere geht ihn nichts an. Aber vor einer Woche ist ein verrückter Vampir in Moskau aufgetaucht. Und ausgerechnet ich erhielt den Auftrag, ihn unschädlich zu machen. Angeblich, weil alle Fahnder anderweitig beschäftigt waren. In Wahrheit aber, damit ich auch mal Pulver roch. Vielleicht ist das ja sogar der richtige Weg. Aber in dieser Woche sind drei weitere Menschen gestorben. Ein echter Profi hätte dieses Pärchen innerhalb von vierundzwanzig Stunden geschnappt…«
Ich hätte zu gern gewusst, wie Olga darüber dachte. Doch die Eule gab keinen Laut von sich.
»Was ist also wichtiger, um das Gleichgewicht zu wahren?«, fragte ich sie dennoch.»Mich in der operativen Arbeit fortzubilden oder das Leben von drei absolut unschuldigen Menschen zu retten?«
Die Eule schwieg.
»Mit meinen normalen Möglichkeiten konnte ich Vampire nicht spüren«, fuhr ich fort.»Ich musste mich erst in Resonanz versetzen. Menschenblut habe ich aber nicht getrunken. Schweineblut musste reichen. Und all diese Präparate - du weißt ja, was ich meine…«
Während ich über die Präparate sprach, stand ich auf, öffnete den Schrank über dem Herd und holte ein fest verkorktes Glas heraus. Von dem klumpigen braunen Pulver klebte nur noch ein letzter Rest am Boden, sodass es sich nicht lohnte, es in unserer Materialausgabe vorbeizubringen. Ich schüttete das Pulver ins Spülbecken und stellte das Wasser an, woraufhin ein würziger benebelnder Geruch die Küche erfüllte. Das Glas wusch ich aus und schmiss es dann in den Mülleimer.
»Ich bin schon fast nicht mehr ich selbst gewesen«, bemerkte ich.»Und zwar im buchstäblichen Sinne. Als ich gestern Morgen von der Jagd zurückkam… ist mir vor dem Haus meine Nachbarin begegnet. Ich habe mich noch nicht mal getraut, sie zu begrüßen, weil die langen Eckzähne schon anfingen hervorzukommen. Und heute Nacht, als ich den Ruf vernommen habe, der dem Jungen galt… hat nicht viel gefehlt, und ich hätte mit den Vampiren gemeinsame Sache gemacht.«
Die Eule sah mir in die Augen.
»Glaubst du, dass mich der Chef deshalb ausgesucht hat?«
Ein ausgestopfter Vogel. Ein paar Federn über einem Wattekern.
»Damit ich sie mit ihren Augen sehe?«
Im Flur ertönte die Klingel. Ich seufzte und breitete die Arme aus: Was soll ich machen, bist selber schuld, jeder x-beliebige Gesprächspartner ist besser als dieser langweilige Vogel. Auf dem Weg zur Tür schaltete ich das Licht ein, bevor ich öffnete.
Vor mir stand ein Vampir.
»Komm rein«, sagte ich.»Komm rein, Kostja.«
Verlegen trat er von einem Bein aufs andere, kam dann aber doch herein. Als er sich das Haar glatt strich, merkte ich, dass seine Hände schweißnass waren und sein Blick unruhig umherirrte.
Kostja war erst siebzehn. Er war von Geburt an Vampir, ein ganz gewöhnlicher, normaler Stadtvampir. Eine verdammt unangenehme Situation: Mit Vampiren als Eltern hat ein Kind kaum eine Chance, als Mensch aufzuwachsen.
»Ich bringe die CDs«, brummelte Kostja.»Hier.«
Ich nahm ihm den Stapel CDs ab, ohne mich darüber zu wundern, dass es so viele waren. Normalerweise muss man Kostja ewig hinterherrennen, bis er die Scheiben zurückgibt - er ist vergesslich bis zum Geht-nichtmehr.
»Hast du schon alle gehört?«, fragte ich.»Und gebrannt?«
»Hm… Dann geh ich mal wieder…«
»Warte!«Ich packte ihn bei der Schulter und manövrierte ihn ins Zimmer.»Was ist los?«