An der offenen Tür stand Ignat, umgeben von den Mädchen aus der wissenschaftlichen Abteilung, denen sich auch unsere erbärmlichen Programmiererinnen angeschlossen hatten. Anscheinend hatte unser Erotomane eine Niederlage an der Liebesfront hinnehmen müssen und leckte sich jetzt in kleinem Kreis die Wunden.
»Anton«, fragte Sweta halblaut,»was glaubst du, ist das alles echt?«
»Was genau?«
»Die Ausgelassenheit. Du weißt doch noch, was Semjon gesagt hat?«
Ich zuckte mit den Schultern.»Dass wir noch einmal über diese Fragen sprechen, wenn wir hundert Jahre alt sind? Mir geht es gut. Einfach gut. Weil ich nirgends hinlaufen, mir über nichts den Kopf zerbrechen muss, weil die Wachen die Zungen rausstrecken und sich in den Schatten gelegt haben.«
»Mir geht es auch gut«, stimmte Swetlana zu.»Aber wir sind nur zu viert, nur vier junge oder fast junge. Julja, Tigerjunges, du und ich. Was wird mit uns in hundert Jahren sein? In dreihundert?«
»Das sehen wir dann.«
»Anton, du musst das verstehen.«Sweta berührte sanft meine Hand.»Ich bin sehr stolz darauf, dass ich in die Wache eingetreten bin. Bin glücklich, dass meine Mutter wieder gesund ist. Mein Leben ist jetzt besser, es wäre idiotisch, das abzustreiten. Ich verstehe ja sogar, warum dich der Chef hat diese Erfahrung machen lassen…«
»Bitte nicht, Sweta.«Ich ergriff ihre Hand.»Sogar ich habe das begriffen, auch wenn es mir schwerer fiel. Wir müssen nicht mehr darüber reden.«
»Das will ich auch gar nicht.«Sweta trank ihren Wein und stellte das leere Glas ab.»Anton, was ich meine, ist, dass ich keine Freude sehe.«
»Wo?«Mitunter habe ich eine ziemlich lange Leitung.
»Hier. Bei der Nachtwache. In unserem Freundeskreis. Jeden Tag fechten wir irgendeine Schlacht aus. Mal eine große, mal eine kleine. Mit durchgedrehten Tiermenschen, mit Dunklen Magiern, mit allen Kräften des Dunkels zugleich. Wir spannen unsere Kräfte an, recken das Kinn vor, reißen die Augen auf, sind bereit, uns kopfüber in ein Feuergefecht zu stürzen oder uns mit dem nackten Hintern auf einen Igel zu setzen.«
Ich schnaubte vergnügt.»Was soll denn daran schlecht sein, Sweta? Ja, wir sind Soldaten. Alle bis auf den Letzten, von Julja bis zu Geser. Krieg ist keine lustige Sache, sicher. Aber wenn wir zurückweichen…«
»Was dann?«, antwortete Sweta mit einer Frage.»Kommt dann die Apokalypse? Seit Jahrtausenden kämpfen die Kräfte des Dunkels und des Lichts gegeneinander. Gehen sich an die Gurgel, hetzen ihre Menschenarmeen aufeinander, alles um der großen Ziele wegen. Sind die Menschen seitdem denn wirklich nicht besser geworden, Anton?«
»Doch, das sind sie.«
»Seit der Zeit, da die Wachen ihre Arbeit aufgenommen haben? Anton, mein Lieber, du hast mir vieles erzählt, und du bist nicht der Einzige gewesen. Dass der entscheidende Kampf um die Seelen der Menschen geführt wird, dass wir Gemetzel en masse verhindern. Vielleicht tun wir das ja. Die Menschen bringen sich selbst gegenseitig um. Viel stärker als vor zweihundert Jahren.«
»Willst du damit sagen, dass unsere Arbeit schadet?«
»Nein.«Müde schüttelte Sweta den Kopf.»Das will ich nicht. So arrogant bin ich nicht. Ich will nur sagen, dass wir vielleicht in der Tat… das Licht sind. Nur… In der Stadt gibt es jetzt nachgemachte Weihnachtsspielsachen. Sie sehen aus wie die echten, aber man hat keine Freude an ihnen.«
Sie brachte den kurzen Witz mit völlig ernster Stimme vor, ohne den Ton zu ändern. Sie sah mir in die Augen.»Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Sicherlich. Die Dunklen richten jetzt weniger Böses an«, fuhr Swetlana fort.»Das sind unsere Kompromisse, eine gute Handlung für eine böse Handlung, die Lizenzen zum Mord und zur Heilung lassen sich rechtfertigen, das glaube ich gern. Die Dunklen richten weniger Böses an als früher, und wir richten von unserer Bestimmung her nichts Böses an. Und die Menschen?«
»Was haben die Menschen damit zu tun?«
»Aber um sie geht es doch! Wir verteidigen sie. Uneigennützig und unermüdlich. Aber warum geht es ihnen dann nicht besser? Sie übernehmen von sich aus die Arbeit des Dunkels. Warum? Haben wir womöglich irgendwas verloren, Anton? Jenen Glauben, mit dem Lichte Magier Armeen in den Tod schickten, aber auch selbst in den vordersten Reihen kämpften? Die Fähigkeit, nicht nur zu verteidigen, sondern auch Freude zu spenden? Was nützen starke Mauern, wenn es die Mauern eines Gefängnisses sind? Die Menschen haben die richtige Magie vergessen, die Menschen glauben nicht an das Dunkel, aber auch nicht an das Licht! Anton, wir sind Soldaten. Richtig! Aber eine Armee liebt man nur, wenn Krieg herrscht.«
»Es herrscht Krieg.«
»Wer weiß denn das?«
»Wir sind vermutlich nicht ganz Soldaten«, räumte ich ein. Von der eigenen, lang gehegten Position abzulassen ist immer unangenehm, aber ein anderer Ausweg blieb mir nicht.»Sondern eher Husaren. Tram, pam, pam…«
»Die Husaren konnten lachen. Wir haben das schon fast verlernt.«
»Dann sag mir, was wir machen sollen.«Plötzlich begriff ich, dass der Tag, der so schön zu werden versprochen hatte, den Bach hinunterging, in eine dunkle, stinkende Schlucht fiel, in der sich alter Müll türmte.»Sag’s mir! Du bist eine Große Zauberin, wirst es zumindest bald sein. Der General in unserem Krieg. Während ich nur ein einfacher Leutnant bin. Gib mir einen Befehl, und zwar den richtigen. Sag, was soll ich tun?«
Erst in dem Moment fiel mir auf, dass sich im Wohnzimmer Stille herabgesenkt hatte, dass alle uns zuhörten. Aber das war mir schon völlig egal.
»Sagst du, ich soll hinausgehen und Dunkle umbringen? Dann geh ich. Das ist nicht meine Stärke, aber ich werde mir alle Mühe geben! Sagst du, ich soll lachen und den Menschen Gutes bringen? Dann tu ich das. Nur wer wird dann für das Böse einstehen, dem ich die Bahn breche? Gut und böse, Licht und Dunkel, ja, wir wiederholen diese Worte immer wieder, verwischen ihren Sinn, tragen sie wie Banner vor uns her und lassen sie dann in Wind und Regen verfaulen. Dann gib mir ein neues Wort! Gib mir ein neues Banner! Sag mir, wohin ich gehen und was ich tun soll!«
Ihre Lippen zitterten. Ich stockte, aber es war schon zu spät.
Swetlana weinte, die Hände vors Gesicht geschlagen.
Warum hatte ich das getan?
Oder hatten wir tatsächlich verlernt, einander anzulächeln?
Selbst wenn ich hundertmal Recht hatte, aber…
Was ist meine Wahrheit wert, wenn ich bereit bin,
die ganze Welt zu verteidigen, aber nicht diejenigen, die mir nahe stehen? Wenn ich den Hass bezwinge, aber die Liebe nicht mehr zulassen kann?
Ich sprang auf, umarmte Swetlana, zog sie aus dem Wohnzimmer. Die Magier blieben stehen, wandten den Blick ab. Vielleicht hatten sie eine solche Szene schon oft gesehen. Vielleicht verstanden sie auch alles.
»Anton.«Völlig lautlos war Tigerjunges aufgetaucht, stieß gegen irgendeine Tür, öffnete sie. Sah mich mit einer Mischung aus Vorwurf und unvermutetem Verständnis an. Und ließ uns beide allein.
Eine Weile standen wir reglos da. Swetlana weinte leise, vergrub den Kopf an meiner Schulter, während ich abwartete. Zu sagen gab es nichts mehr. Ich war schon mit allem herausgeplatzt, was mir in den Sinn gekommen war.
»Ich werde es versuchen.«
Das hatte ich nicht erwartet. Alles andere: Beleidigungen, einen Gegenausfall, Vorwürfe - aber nicht das.
Swetlana nahm die Hände vom tränenfeuchten Gesicht. Schüttelte lächelnd den Kopf.»Du hast Recht, Antoschka. Völlig Recht. Ich beklage und beschwere mich bisher nur. Jammere wie ein Kind, verstehe nichts. Dabei stupst man mich mit der Nase in den Grießbrei, erlaubt mir, mit Feuer zu spielen, und wartet ab, wartet, bis ich reifer bin. Dann muss das alles wohl so sein. Ich werde es versuchen. Ich gebe dir ein neues Banner.«