»Sweta…«
»Du hast Recht«, unterbrach sie mich.»Aber ein bisschen habe ich auch Recht. Nur nicht darin, dass ich
mich vor den anderen so habe gehen lassen. Sie amüsieren sich so gut sie können. Genauso wie sie sich so gut sie können schlagen. Wir haben jetzt ein paar freie Tage, die sollten wir den anderen nicht verderben. Abgemacht?«
Erneut spürte ich die Mauer. Die unsichtbare Mauer, die immer zwischen mir und Geser stehen wird, zwischen mir und den Leuten von der höchsten Führungsebene.
Jene Mauer, die die Zeit zwischen uns errichtet. Heute habe ich sie eigenhändig um ein paar Reihen kalter Kristallsteine weiter hochgezogen.
»Verzeih mir, Sweta«, flüsterte ich.»Verzeih mir.«
»Vergessen wir das«, sagte sie fest entschlossen.»Lass uns nicht mehr daran denken. Noch können wir es vergessen.«
Schließlich sahen wir uns um.
»Das Arbeitszimmer?«, vermutete Sweta.
Die Bücherschränke aus dunkler Eiche, die Bände hinter dunklem Glas. Ein beeindruckender Schreibtisch, auf dem ein Computer stand.
»Ja.«
»Aber Tigerjunges lebt doch allein, oder?«
»Ich weiß nicht.«Ich schüttelte den Kopf.»Wir fragen einander nicht aus.«
»Ich glaub schon, dass sie allein lebt. Zumindest jetzt.«Swetlana holte ein Taschentuch heraus und tupfte sich vorsichtig die Tränen weg.»Sie hat ein schönes Haus. Gehen wir, sonst machen sich die anderen noch Sorgen.«
Ich schüttelte den Kopf.»Sie werden sicherlich spü-
ren, dass wir uns nicht streiten.«
»Nein, das können sie nicht. Hier sind alle Zimmer abgeschirmt, sie werden nichts mitbekommen.«
Indem ich durchs Zwielicht spähte, bemerkte auch ich das in den Wänden verborgene Flimmern.»Jetzt sehe ich es. Du wirst mit jedem Tag stärker.«
Swetlana lächelte, ein wenig angespannt noch, aber stolz.»Komisch«, sagte sie.»Warum baut man Barrieren ein, wenn man allein lebt?«
»Aber warum sollte man sie aufstellen, wenn man nicht allein lebt?«, fragte ich. Halblaut, um keine Antwort herauszufordern. Und Swetlana gab auch keine.
Wir gingen aus dem Arbeitszimmer zurück ins Wohnzimmer.
Es herrschte zwar nicht gerade Friedhofsstimmung, aber viel fehlte nicht.
Wessen Werk das wohl war? Semjons oder Iljas? Im Zimmer hing eine nach Moor riechende Feuchtigkeit. Ignat hatte Lena im Arm und schaute sehnsüchtig auf die anderen. Er liebte Heiterkeit, in allen ihren Formen, jeder Streit und jede Anspannung trieben ihm ein Messer ins Herz. Die Kartenspieler starrten auf eine einzige Karte, die auf dem Tisch lag und unter ihren Blicken erbebte, sich krümmte, die Farbe und den Wert änderte. Die leicht eingeschnappte Julja stellte Olga leise eine Frage.
»Gießt ihr uns was ein?«, fragte Sweta, die meine Hand hielt.»Weiß denn niemand, was für hysterische Weiber die beste Medizin ist? Fünfzig Gramm Kognak.«
Tigerjunges, die mit unglücklicher Miene am Fenster stand, ging rasch zur Bar. Ob sie sich unseren Streit zuschrieb?
Sweta und ich nahmen beide ein Glas Kognak, stießen demonstrativ an und küssten uns. Ich fing Olgas Blick auf: Er war nicht erfreut, nicht betrübt, aber neugierig. Und ein wenig eifersüchtig. Wobei die Eifersucht nicht von dem Kuss herrührte.
Mit einem Mal fühlte ich mich unbehaglich.
Als ob ich aus einem Labyrinth herausgekommen sei, durch das ich lange Tage und Monate geirrt war. Herausgekommen - um den Eingang zu den nächsten Katakomben zu erblicken.
Zwei
Erst zwei Stunden später konnte ich mit Olga unter vier Augen sprechen. Die Gesellschaft, deren Heiterkeit Swetlana so gewollt vorkam, hatte sich inzwischen nach draußen verlagert. Semjon schaltete und waltete am Grill seines Amtes und teilte an alle Hungrigen Schaschlik aus, das er mit einer Geschwindigkeit zubereitete, welche eindeutig auf die Zuhilfenahme von Magie hinwies. Neben ihm standen noch zwei Kästen mit trockenem Wein im Schatten.
Olga plauderte angeregt mit Ilja. Beide hielten einen Schaschlikspieß und ein Glas Wein in Händen. Es war schade, diese Idylle zu stören, aber…
»Olga, ich muss mit dir reden«, sagte ich, als ich an die beiden herantrat. Swetlana war völlig in ein Gespräch mit Tigerjunges vertieft - die beiden Frauen diskutierten voller Eifer den traditionellen Neujahrskarneval der Wache, wobei sie mit der verzwackten Logik von Frauen von der aktuellen Hitze zu diesem Thema sprangen. Ein günstiger Moment.
»Entschuldige, Ilja.«Die Zauberin breitete die Arme aus.»Wir kommen noch darauf zurück, ja? Mich interessiert sehr, welche Gründe du für den Zusammenbruch der Sowjetunion siehst. Auch wenn du Unrecht hast.«
Der Magier lächelte triumphierend und ging davon.
»Frag schon, Anton«, fuhr Olga im selben Ton fort.
»Du weißt, was ich will?«
»Ich vermute es.«
Ich blickte mich um. Niemand stand in unserer Nähe. Noch dauerte die kurze Phase eines Datschenpicknicks an, in der du nur essen und trinken willst, weder der Magen zu voll noch der Kopf zu schwer ist.
»Was kommt auf Swetlana zu?«
»Es ist schwer, die Zukunft vorherzusagen. Und erst recht, was die Zukunft von Großen Magiern und Zauberinnen…«
»Keine Ausflüchte, Partnerin.«Ich blickte ihr die Augen.»Das ist nicht nötig. Haben wir zusammen nicht schon einiges durchgestanden? Als Team gearbeitet? Vor gar nicht allzu langer Zeit standest du noch unter Strafe, und dir war alles entzogen, sogar dein Körper. Und deine Strafe war angemessen.«
Das Blut wich aus Olgas Gesicht.»Was weißt du von meiner Schuld?«
»Alles.«
»Woher?«
»Schließlich bearbeite ich Daten.«
»Zu meinen hast du keinen Zugang. Mein Fall ist nie in die digitalisierten Archive gelangt.«
»Es gibt indirekte Daten, Olga. Hast du schon mal die Kreise auf dem Wasser gesehen? Der Stein kann seit langem am Boden liegen, von Schlamm bedeckt sein, aber die Kreise breiten sich immer noch aus. Unterspülen die Böschung, tragen Müll und Gischt ans Ufer, lassen Boote kentern, wenn der Stein groß genug war. Und dieser war sehr groß. Geh davon aus, dass ich lange am Ufer gestanden habe, Olga. Dort gestanden und die Wellen betrachtet habe, die ans Ufer schlagen.«
»Du bluffst.«
»Nein. Olga, was steht Sweta bevor? Welche Phase der Ausbildung?«
Die Zauberin sah mich an, vergaß das kalt gewordene Schaschlik und das halb leere Glas. Ich schlug noch einmal zu.»Du hast diese Phase doch auch durchlaufen?«
»Ja.«Offensichtlich wollte sie nicht länger die Schweigende spielen.»Das habe ich. Aber für meine Vorbereitung stand mehr Zeit zur Verfügung.«
»Warum überstürzt man bei Sweta alles so?«
»Niemand hat damit gerechnet, dass in diesem Jahrhundert noch eine Große Zauberin geboren wird. Geser musste improvisieren, mitten im Spiel alles umorganisieren.«
»Hast du deshalb deine frühere Gestalt zurückbekommen? Nicht nur wegen deiner guten Arbeit?«
»Du weißt doch schon alles!«Olgas Augen funkelten hässlich.»Was quälst du mich da?«
»Beaufsichtigst du ihre Vorbereitung? Ausgehend von deinen Erfahrungen?«
»Ja. Bist du jetzt zufrieden?«
»Olga, wir stehen auf derselben Seite der Barrikade«, flüsterte ich.
»Dann setz gegen deine Gefährten nicht die Ellenbogen ein.«
»Welches Ziel hat das Ganze, Olga? Was hast du nicht fertig gebracht? Was muss Sweta tun?«
»Du…«Sie wirkte völlig aufgelöst.»Hast du also doch geblufft, Anton!«