Nach der Flasche holte er zwei einfache Wassergläser aus der Tüte, ein Zweiliter-Einmachglas, unter dessen Blechdeckel kleine Gurken ihrer Bestimmung harrten, und eine große Tüte mit saurem Kohl.
»Und womit spülen wir nach?«
»Bei Wodka braucht man nicht nachzuspülen, mein Junge«, meinte Semjon kopfschüttelnd.»Das ist nur bei Surrogaten nötig.«
»Wirst alt wie ‘ne Kuh…«
»Das hättest du schon früher wissen müssen. Und was den Wodka angeht, brauchst du dir keine Gedanken zu machen, die Siedlung Tschernogolowka gehört zu meinem Kontrollgebiet. In der Fabrik arbeitet ein kleiner Hexenmeister, der nicht allzu garstig ist. Er liefert mir gute Ware.«
»Du verzettelst dich mit Kleinkram«, wagte ich zu bemerken.
»Tu ich nicht. Ich bezahle ihn mit Geld. Das läuft alles ganz ehrlich ab, ist unsere Privatsache, die Wachen haben damit nichts zu tun.«
Mit einer geschickten Bewegung drehte Semjon den Verschluss der Flasche ab und goss jedem ein halbes Glas voll. Obwohl die Tasche den ganzen Tag auf der Veranda gestanden hatte, war der Wodka kalt.
»Auf die Gesundheit?«, vermutete ich.
»Zu früh. Auf uns.«
Vorhin hatte er mich wirklich ausgenüchtert, und zwar richtig, mein Blut womöglich nicht vom Alkohol gereinigt, sondern auch von allen Stoffwechselprodukten. Ich trank das halbe Glas aus, ohne mich zu schütteln, und stellte verwundert fest, dass Wodka nicht nur im Winter bei Kälte wohl tut, sondern auch im Sommer nach einem heißen Tag.
»Also dann.«Semjon grunzte zufrieden und lümmelte sich bequem hin.»Man sollte Tigerjunges dezent darum bitten, hier Schaukelstühle aufzustellen.«
Er zog seine gräßlichen Jawas hervor und steckte sich eine an.
»Ich rauch sie sowieso«, meinte er, als er meinen missbilligenden Blick auffing.»Aus Liebe zu meinem Land.«
»Und ich liebe meine Gesundheit«, grummelte ich.
Semjon schnaubte.»Hat mich doch einmal ein befreundeter Ausländer zu sich zu Besuch eingeladen«, setzte er an.
»‘ne alte Sache?«, fragte ich, mich unwillkürlich seinem Stil anpassend.
»Nein, voriges Jahr. Er hat mich eingeladen, um zu lernen, wie man sich in Russland betrinkt. Er hat im Penta ein Zimmer gehabt. Ich habe eine Zufallsbekanntschaft mitgenommen und ihren Bruder - der gerade aus dem Lager entlassen worden war und nicht wusste, wohin. So sind wir dann losgezogen.«
Als ich mir die Gesellschaft vorstellte, schüttelte ich den Kopf.»Hat man euch denn reingelassen?«
»Ja.«
»Weil du Magie eingesetzt hast?«
»Nein, weil mein ausländischer Freund Geld eingesetzt hat. Für Wodka und die Zuspeisen hatte er reichlich gesorgt, wir haben am 30. April angefangen zu trinken und am 2. Mai aufgehört. Die Zimmermädchen haben wir nicht reingelassen, den Fernseher nicht ausgeschaltet.«
Ich sah Semjon an, der in einem zerknautschten karierten Hemd aus russischer Produktion, verwaschenen türkischen Jeans und ausgelatschten tschechischen Sandalen vor mir saß, und konnte mir ohne Probleme vorstellen, wie er frisch gezapftes Bier aus einem Dreiliterglas trank. Aber ins Penta passte er nur schwer.
»Ihr Monster«, sagte ich voller Mitleid.
»Nein, warum denn das? Meinem Freund hat es sehr gefallen. Er hat gesagt, dass er danach verstanden hat, was ein richtiges russisches Besäufnis ausmacht.«
»Und was ist das?«
»Das ist, wenn du morgens aufwachst und alles um dich herum grau ist. Der Himmel ist grau, die Sonne ist grau, die Stadt ist grau, die Menschen sind grau, deine Gedanken sind grau. Und der einzige Ausweg ist, weiterzutrinken. Dann geht es dir besser. Dann kommen die Farben zurück.«
»Muss ein interessanter Ausländer gewesen sein!«
»Kannst du sagen!«
Semjon schenkte erneut ein, diesmal aber weniger. Dann dachte er kurz nach und füllte die Gläser bis zum Rand.
»Trinken wir, mein Alter. Trinken wir darauf, dass wir nicht unbedingt trinken müssen, um einen blauen Himmel, eine gelbe Sonne und eine bunte Stadt zu sehen. Lass uns darauf trinken. Wir beide treten ins Zwielicht ein und sehen, dass die Welt von ihrer Kehrseite aus betrachtet nicht die ist, die jeder sonst dafür hält. Aber vermutlich gibt es nicht nur diese eine Kehrseite. Auf die leuchtenden Farben!«
Völlig verwirrt trank ich ein halbes Glas.
»Keine halben Sachen, Junge«, sagte Semjon im selben Ton wie zuvor.
Ich trank aus. Aß eine Hand voll von dem knackigen süßsauren Kohl.
»Warum führst du dich so auf, Semjon?«, fragte ich.»Wozu dieser übertriebene Aplomb, dieses Image?«
»Mächtig schlaue Wörter, so was verstehe ich nicht.«
»Komm schon!«
»Das macht es leichter, Antoschka. Jeder passt so auf sich auf, wie er kann. Ich halt auf diese Weise.«
»Was soll ich tun, Semjon?«, fragte ich. Ohne jede Erklärung.
»Das, was nötig ist.«
»Und wenn ich nicht das tun will, was nötig ist? Wenn unsere ach so lichte Wahrheit, unser Wächterehrenwort und unsere fabelhaft guten Absichten mir zum Hals raushängen?«
»Du musst eins verstehen, Anton.«Der Magier biss krachend in eine Gurke.»Du hättest es längst verstehen sollen, aber du hast ja ständig bloß deine Blechkisten im Kopf. Unsere Wahrheit, so groß und licht sie auch sein mag, besteht aus einer Unmenge kleiner Wahrheiten. Und Geser kann noch so klug sein und an Erfahrung haben, wovon wir bei Gott nur träumen können. Obendrein hat er aber auch magisch geheilte Hämorrhoiden, einen Ödipuskomplex und die Angewohnheit, immer wieder alte bewährte Muster auf neue Weise anzuwenden. Das nur als Beispiel, ich will bei ihm keine Erbsen zählen, schließlich ist er der Chef.«
Er angelte sich eine neue Zigarette, und diesmal wagte ich keinen Einspruch.
»Aber darum geht es gar nicht, Anton. Du bist noch jung, bist in die Wache eingetreten und hast dich gefreut. Hat sich am Ende doch die ganze Welt in Schwarz und Weiß geteilt! Ein Menschheitstraum war in Erfüllung gegangen, endlich war klar, wer gut und wer schlecht ist. Nur eins musst du begreifen. So ist es nicht. Nicht so. Irgendwann waren wir alle mal eins. Die Dunklen wie die Lichten. Haben in unserer Höhle am Lagerfeuer gesessen, durchs Zwielicht gespäht, auf welcher Weide das Mammut grast, haben beim Singen und beim Tanzen Funken aus den Fingern geschlagen und mit Feuerkugeln andere Stämme geröstet. Und lass uns, damit unser Beispiel möglichst anschaulich ist, zwei Brüder nehmen, zwei Andere. Der, der als Erster ins Zwielicht getreten ist, war in dem Moment vielleicht satt, vielleicht zum ersten Mal verliebt. Bei dem andern war das Gegenteil der Fall. Er hatte sich den Magen mit unreifem Bambus verdorben, die Frau hatte ihn zurückgewiesen, weil sie angeblich Kopfschmerzen hatte und vom Abschaben der Felle müde war. So ging es weiter. Der eine führt die anderen zum Mammut und ist zufrieden. Der andere verlangt ein Stück vom Rüssel und als Dreingabe noch die Häuptlingstochter. So teilten wir uns in Dunkle und Lichte, in Gute und Böse. Einfach, nicht wahr? So bringen wir es auch den kleinen Anderen bei. Und wer hat dir, mein Alter, denn gesagt, dass sich daran etwas geändert hat?«
Semjon beugte sich so heftig zu mir hinüber, dass der Sessel knirschte.»So war es, so ist es, so wird es sein. Für immer, Antoschka. Ein Ende gibt es nicht. Jetzt sind wir diejenigen, die den, der sich abseilt und in den Kampf zieht und ungefragt Gutes schafft, entkörpern. Und ab ins Zwielicht mit ihm, wenn er das Gleichgewicht stört, ab ins Zwielicht mit dem Psychopathen und Hysteriker. Und was wird morgen sein? In hundert Jahren? In tausend? Wer kann das voraussehen? Du? Ich? Geser?«