Dann gab es hier oben noch eine Bibliothek. Dort entdeckte ich Garik und Farid. Da waren sie, diejenigen, die die ganze Nacht durchgequatscht hatten, bei einem Fläschchen - wobei es bei einem nicht geblieben war. Sie waren in den Sesseln eingeschlafen, offenbar erst vor kurzem: Vor Farid rauchte auf dem Tisch noch ganz leicht die Pfeife. Am Boden lagen Stapel von Büchern, die sie aus den Regalen genommen hatten. Worüber sie wohl gestritten hatten, dabei Schriftsteller und Dichter, Philosophen und Historiker als Bundesgenossen zitierend?
Über eine hölzerne Wendeltreppe ging ich nach unten. Ob sich jemand finden würde, der diesen ruhigen friedlichen Morgen mit mir teilte?
Im Wohnzimmer schliefen ebenfalls noch alle. Als ich in die Küche schaute, entdeckte ich niemanden, sah man einmal von einem Hund ab, der sich in eine Ecke drückte.
»Wieder aufgetaut?«, fragte ich.
Der Terrier bleckte die Zähne und winselte kläglich.
»Wer hat dich denn gestern auch gebeten zu kämpfen?«Ich kniete mich vor den Hund. Nahm ein Stück Wurst vom Tisch, was das gut erzogene Tier sich selbst nicht traute.»Nimm.«
Die Schnauze schnappte über meiner Hand zusammen und verschlang das Stück Wurst.
»Wenn du gut bist, ist man auch gut zu dir!«, erklärte ich ihm.»Und drück dich nicht in den Ecken herum.«
Aber irgendjemand musste doch schon wach sein!
Ich nahm mir selbst ein Stück Wurst. Kauend ging ich durchs Wohnzimmer und schaute ins Arbeitszimmer.
Auch hier schliefen welche.
Das Ecksofa war sogar ausgeklappt schmal. Deshalb lagen sie eng beieinander. Ignat in der Mitte, die muskulösen Arme ausgebreitet und süß lächelnd. Lena schmiegte sich links an ihn an, eine Hand in seine
dichte blonde Mähne verflochten, die andere über seine Brust gestreckt, sodass sie die zweite Partnerin unseres Don Juans berührte. Swetlana hatte den Kopf irgendwo unter Ignats rasierter Achselhöhle vergraben, ihre Hände hielten die halb herabgerutschte Decke gepackt.
Leise und sehr sorgsam schloss ich die Tür.
Das kleine Restaurant wirkte gemütlich. Der Seewolf war, wie schon der Name sagte, für seine Fischgerichte und das freundliche»Schiffsinterieur«berühmt. Außerdem lag es in unmittelbarer Nähe der Metro. Für einen kleinen Mann aus dem Mittelstand, der hin und wieder im Restaurant schlemmen, dabei aber nicht auch noch Geld für ein Taxi ausgeben wollte, stellte das einen nicht unwesentlichen Faktor dar.
Dieser Gast kam mit dem Auto, einem alten, aber völlig intakten»Sechser«. Der geschulte Blick der Kellner buchte ihn übrigens als weitaus zahlungskräftiger ab, als sein Wagen vermuten ließ. Die Ruhe, mit der der Mann den teuren dänischen Wodka trank, sich weder um den Preis noch um eventuelle Probleme mit der Verkehrspolizei scherte, bekräftigte diesen Eindruck nur.
Als der Kellner den bestellten Stör brachte, hob der Mann kurz den Blick. Bisher hatte er nur dagesessen, war mit dem Zahnstocher über die Serviette gefahren und immer mal wieder erstarrt, den Blick auf die Flammen der gläsernen Petroleumlampen gerichtet. Jetzt sah er plötzlich den Kellner an.
Dieser würde niemandem sagen, was er in diesem kurzen Moment zu sehen glaubte. Ihm schien, als blicke er in zwei gleißende Brunnen. Blendend in einem Maße, da das Licht verbrennt und nicht mehr vom Dunkel zu unterscheiden ist.
»Danke«, sagte der Gast.
Der Kellner ging weg, kämpfte gegen den Wunsch an, den Schritt zu beschleunigen. Sagte sich immer wieder: Das war nur das Funkeln der Lampe im gemütlichen Halbdunkel des Restaurants. Nur das Funkeln des Lichts im Dunkel war ihm auf die Augen geschlagen.
Boris Ignatjewitsch saß noch ein Weilchen da und zerbrach Zahnstocher. Der Stör wurde kalt, der Wodka in der Kristallkaraffe warm. Hinter einer Absperrung aus dicken Seilen, nachgebildeten Steuerrädern und einem imitierten Segel feierte eine große Gesellschaft den Geburtstag von jemandem, warf mit Glückwünschen um sich, schimpfte über die Hitze, die Steuern und irgendwelche»falschen«Banditen.
Geser, der Chef der Moskauer Abteilung der Nachtwache, wartete.
Die Hunde, die draußen lagen, scheuten zurück, sobald ich auftauchte. Der»Freeze«hatte sie schwer mitgenommen. Der Körper gehorcht nicht, man kann nicht knurren und nicht bellen, der Geifer gefriert ihnen in der Schnauze, die Luft lastet wie die schwere Hand eines Fieberkranken.
Aber die Seele lebt.
Die Hunde hatte es schwer mitgenommen.
Das Tor stand halb offen, ich ging hinaus, blieb kurz stehen, wusste nicht genau, wohin ich gehen und was ich tun sollte.
Spielte das überhaupt noch eine Rolle?
Gekränkt war ich nicht. Es tat nicht einmal weh. Wir waren nie intim gewesen. Mehr noch, ich selbst hatte alles darangesetzt, diese Barriere zwischen uns aufzubauen. Schließlich lebe ich nicht für den Augenblick, sondern will alles, sofort und für immer.
Ich tastete nach dem MD-Player, schaltete die Zufallsauswahl ein. Damit habe ich stets Glück. Ob ich wohl wie Tigerjunges seit langer Zeit das simple elektronische System steuere, ohne es selbst zu bemerken?
Wen trifft die Schuld, dass deine Kraft,
Die dich gen Himmel trug, erschlafft,
Dass du nicht findest, was du suchst,
Und das Gefundene verfluchst?
Und wer ist schuld, dass Tag für Tag
Gelenkt von fremdem Stundenschlag
Das Leben fließt aus dir heraus
Und öd und einsam wird dein Haus?
Der Ton verstummt, das Licht wird fahl,
Und jedes Mal kommt neue Qual,
Und wenn dein Schmerz allmählich nachlässt -
Ist das nächste Unglück nicht mehr weit.
Ich hatte es selbst gewollt. Selbst darum gekämpft. Und durfte jetzt niemandem die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Statt gestern den ganzen Abend mit Semjon über die Schwierigkeiten der weltweiten Konfrontation zwischen Gut und Böse zu philosophieren, hätte ich bei Sweta bleiben sollen. Statt wie ein Wolf Geser und Olga samt ihrer hämischen Wahrheit im Auge zu behalten, hätte ich auf meiner bestehen sollen.
Und nie, niemals daran denken dürfen, dass ich nicht siegen kann.
Du brauchst diesen Gedanken nur aufkommen zu lassen - und schon hast du verloren.
Wen trifft die Schuld und woran liegt,
Dass der betrügt und der nichts kriegt?
Der ist verliebt und der betrübt,
Der ist ein Narr, der bringt Gefahr.
Und wer ist schuld, dass jedes Jahr
Dein Leben nichts als Warten war?
Der Tag ist schwer, die Nacht ist leer,
Und warme Plätzchen gibt’s nicht mehr…
Der Ton verstummt, das Licht wird fahl,
Und jedes Mal kommt neue Qual,
Und wenn dein Schmerz allmählich nachlässt -
Ist das nächste Unglück nicht mehr weit.
Wen trifft die Schuld, dass weit und breit
Kein Glück gedeiht und auch kein Leid,
Kein Sieg und keine Niederlage,
Erfolg und Scheitern sind in Waage,
Und wem ist wohl die Schuld zu geben,
Dass du allein bist und dein Leben
So trostlos ist und nur besteht
Aus Zeit - bis es zu Ende geht…
»Das nun nicht gerade«, flüsterte ich und zog die Kopfhörer heraus.»Darauf braucht ihr nicht zu warten.«
Man hatte uns so lange gelehrt zu geben, ohne im Gegenzug etwas zu nehmen. Sich um anderer willen zu opfern. Jeder Schritt wie ins Maschinengewehrfeuer, jeder Blick gütig und weise, kein einziger sinnloser Gedanke, keine einzige sündige Überlegung. Denn wir sind die Anderen. Wir haben uns über die Masse erhoben, haben unsere tadellos reinen Fahnen entfaltet, unsere Lackschuhe auf Hochglanz gewienert, weiße Handschuhe übergezogen. O ja, in unserer eigenen kleinen Welt erlauben wir uns alles Mögliche. Jede Tat findet ihre Rechtfertigung, ehrliche und erhabene. Eine einmalige Nummer: Zum ersten Mal stehen wir strahlend weiß da, während alles um uns herum in der Scheiße sitzt.