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Nancy Etchemendy

Der Tempel am Fluß

Freund, du warst gut zu mir, obwohl ich ein Fremder bin, ein kranker Reisender mit wilden Augen von einem Ort, dessen Name in dieser Gegend keine Bedeutung hat. Ich kenne dich erst seit einer Stunde, aber ich glaube, du bist ein guter Mann und so stark, wie ich es einst war. Wenn du meinen Anblick eine Weile ertragen kannst, dann setz dich und hör zu. Vielleicht sind diese meine Worte wie Samen, die auf empfängliche Erde fallen, denn die Reise des Buches darf nicht hier enden.

Man sagt, meine Mutter hätte viele Kinder verloren, bevor sie meine Schwestern Arain und Mera gebar. Wundervoll müssen sie ihr erschienen sein, denn ein gesundes Kind ist schon kostbar genug, aber zwei auf einmal sind ein Wunder. Meine Schwestern kamen zusammen aus ihrem Leib, ganz ähnlich zwei goldenen Weizenhalmen, die dem gleichen Samen entsprungen sind. Vom Tag ihrer Geburt an war ihr Haar weiß und strahlend, ihre Augen kühl und violett wie der Abendnebel am Fluß, und ihre Haut war wie makelloses Elfenbein. In der Stadt Handred sagte man, sie wären ein Omen, das von Feder geschickt wäre, und ihre Schönheit wäre das Zeichen Seiner Größe.

Meine Schwestern waren gerade acht Jahre alt und ich ein Kind von zwei Jahren, als unsere Eltern von Räubern aus Nupask getötet wurden. Wir begruben unsere Mutter und unseren Vater selbst und machten ein Brandopfer mit ihrem Haar, damit Feder auf Handred herablächelte und unseren Frauen viele Kinder schenkte.

Wir waren nicht von hoher Geburt und hätten leicht den Rest unserer Kindheit als Straßenkinder verbringen können, wären da nicht die Frommen der Stadt gewesen. Die Frommen schlossen Arain und Mera ins Herz, weil ihre Schönheit ein Zeichen der göttlichen Gunst war, und sie schlossen mich ins Herz, weil ich ihr Bruder war. Es mangelte uns nie an Essen oder einem warmen Lager.

Eines Frühlingsabends kam eine große, bleiche Frau vom Tempel. Sie sprach lange mit Arain und Mera. Später erzählten sie mir, daß ihr Name Jana war und daß sie Oberin des Dienstes sei. Ich hatte von der Oberin gehört, ich wußte, wie wichtig sie war. Und mit der klaren Weisheit eines Kindes wußte ich, daß ihr Besuch unser Leben sehr verändern würde.

Und so kam es auch. Denn nicht lange danach wurden Arain und Mera zur Großen Schule geschickt, und ich sah sie nicht mehr oft. Erst jetzt begann ich zu verstehen, daß sie anders waren als ich. Ich war gewöhnlich. Ich gehörte zu den Kindern auf den Straßen, die mich aufnahmen; meine Schwestern nicht. Und ich wußte, daß die Oberin nie zu mir kommen würde.

Statt dessen kam der Alte Mathias. Er sah, daß ich zu jung war, um so oft allein zu sein, und nahm mich als Lehrling auf. Ich verdanke Mathias sehr viel. Ohne ihn hätte ich nie die Freude über guten Ton oder eine passend gewählte Glasur kennengelernt, die Befriedigung über eine wundervolle Form, die auf einer vertrauten Scheibe gedreht wurde, die Behaglichkeit einer Werkstatt, die von einem Brennofen gewärmt wird. Aber die Zeit, die Schulden zurückzuzahlen, ist lange vorbei, und mein Bedauern liegt in mir wie spitze Scherben.

Freund, du warst gut zu mir, obwohl ich ein Fremder bin. Kirth ist mein Name, und ich wurde im Norden geboren, in der Stadt Handred am mächtigen Fluß Umbya. Zehn Meilen südlich dieser Stadt steht ein gewaltiges Gebäude am Fluß, der Tempel von Handred. Gebe Feder, daß er nicht gebaut worden wäre, denn er hat große Not verursacht.

Dieses mein schäbiges Bündel, dieser verfluchte Artefakt aus dem Tempel, ist der Grund für meine Reise. Es ist Das Buch des niederen Gottes Makna, der bei den Alten McKenna hieß. Ich schwor, es in die Hände des Befehlshabers von Paradox zu legen, falls in dieser unglücklichen Gegend noch jemand lebt. Es ist ein Land, das nicht weit entfernt im Süden liegt. Aber ich habe versagt. Ich bin ein Mann, der die Sünden der Götter und die Dummheit der Menschen sah, und ich bin gebrochen und habe Angst vor dem Tod.

Obwohl ich ihr Bruder war und sie bewunderte, waren Arain und Mera sich auf eine Weise nahe, an der ich keinen Anteil hatte. Sie waren fast wie ein einziger Mensch. Sie konnten mit den Augen miteinander sprechen. Eine konnte die halb ausgedrückten Gedanken der anderen vollenden. Sie sahen nicht nur gleich aus; ihre Geister folgten auch den gleichen Bahnen, durch Länder, die uns anderen unbetretbar erschienen. Doch gehörten Arain und Mera zu mir, wie sie zu keinem anderen gehörten, denn in meinen Adern floß ihr Blut. Mein Herz schlug heftig, wenn ich ihnen mittags auf der Straße begegnete und wir uns liebevoll begrüßten, während andere bewundernd zusahen.

Nachts stahlen Arain und Mera sich oft aus der Schule und rannten durch die dunklen Straßen zur Tür von Mathias’ Werkstatt. Dort hüteten der andere Lehrling Taud und ich des Nachts die Feuer. Wir schliefen auf Matten neben dem alten Brennofen.

Arain brachte süße Kuchen mit, die sie aus der Schulküche gestohlen hatte, und Mera brachte Wein. Wir vier lachten und redeten stundenlang bis tief in die Nacht. Ich habe diese Zeiten in guter, fröhlicher Gesellschaft und den warmen Feuerschein auf den schönen, jungen Gesichtern von Arain und Mera nicht vergessen.

Taud und ich lernten viel. Manchmal brachten meine Schwestern Bücher mit, und auf diese Weise lernten wir Lesen. Die Bücher weckten unsere Neugierde, und wir dachten über viele Dinge nach, die uns seltsam vorkamen, geheimnisvolle und verwirrende Dinge über Handred und den Tempel und die Götter. Von diesen Dingen zu sprechen, verlockte und ängstigte mich zugleich, denn ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß man uns bestrafen würde, wenn man uns entdeckte. Vielleicht fürchtete ich Maknas Rache. Ich hätte besser Radna gefürchtet.

Meine Schwestern kamen völlig gesund zur Welt, und sie gaben sich gern jeder Sinnenfreude hin. Sie mochten gutes Essen und das wundervolle Delirium nach dem Genuß von zuviel Wein; sie zeichneten sich beim Sport aus, bei der Jagd, bei Kampfspielen und bei Prüfungen ihrer Ausdauer. Als ich eines Abends früh aus der Tongrube zurückkam, schien es mir ganz natürlich, sie mit Taud, der mehrere Jahre älter war als ich, vor dem Feuer ausgestreckt zu finden. Heranwachsend und von Trieben gequält, die mich verwirrten, beneidete ich Taud. Aber es stand einem Bruder nicht zu, über solche Gelüste zu sprechen, und so gab ich mich damit zufrieden, ihnen aus dem Weg zu gehen, um es ihnen leicht zu machen, wenn sie sich ihm hingaben.

Eines Nachts, am Ende meiner Knabenzeit, kamen meine Schwestern mit Büchern und Wein zur Werkstatt. Eine Zeitlang war ich an den Abenden hinausgegangen, um Feuerholz zu holen. Ich trödelte und schlug mehr Holz, als wir brauchten, um sie mit Taud allein zu lassen. Aber diese Nacht war kalt, und ich hatte keinen Mantel dabei, und so kehrte ich früher als gewöhnlich zurück. Ich überraschte sie, als ich die Tür öffnete.

Meine Schwestern standen einander gegenüber am Feuer, Mera halb angekleidet und Arain nur in ihren Stiefeln. In den weißen Haaren zwischen ihren Beinen glitzerten Perlen. Taud stand neben seiner Matte in der Ecke, ohne Hemd und errötete.

»Ich will, daß er mich noch einmal nimmt«, sagte Arain mit tiefer, beängstigender Stimme. »Es ist nicht fair. Er hat dir den Samen schon zweimal gegeben, mir nur einmal.«

»Sei still, Arain«, sagte Mera leise und blickte in meine Richtung. »Kirth ist gerade zurückgekehrt. Es ist unwichtig.«

Aber Arain blieb stehen, die Arme in die Hüften gestemmt und den Körper gespannt wie einen Bogen. Ich konnte sehen, daß sie sich zurückhalten mußte, um Mera nicht zu schlagen.

»Aber ich will … ich will …«, rief Arain mit schmerzvoller Stimme, die ich kaum als die ihre erkannte.

»Aber du willst ein Kind, Arain! Wir zwei sind unfruchtbar. Du wirst nie ein Kind bekommen«, erwiderte Mera ruhig. Ich glaube, Arains Wut richtete sich weniger auf Mera als auf die Tatsache, von der Mera gesprochen hatte. Arain war von einer Leidenschaft geblendet, die ich nie ganz verstehen werde. Sie hob den Arm, um Mera zu schlagen. Aber Mera packte ihr Handgelenk. Sie waren einander ebenbürtig.