Ich erledigte alles, worum er mich gebeten hatte. Bullivant erwartete mich schon, er trug wie immer seinen Tweedanzug. Er nahm die Pakete in Empfang, das Buch und das Manuskript, das ich am Nachmittag getippt hatte. Er überflog die erste Seite und grinste.
»… einer jener idiotischen Typen … die immer noch von der großen Zeit in Indien zehren … – Ja, ich glaube, das stimmt auf gewisse Weise; wir klammern uns an die Vergangenheit, anstatt die Zukunft zu ergreifen. Ja, das ist sehr gut … Das wird mich immer an Sie erinnern.«
»Entschuldigen Sie bitte diese Formulierung«, sagte ich verlegen, »aber ich wollte ein treffendes Bild von Ihnen zeichnen.«
»Oh, ich bin sicher, das ist Ihnen gelungen. Ich werde es wie einen Schatz behandeln«, sagte er und steckte es in die Manteltasche; dann machte er sich daran, die Pakete auszupacken. Ich trat etwas zurück und beobachtete, wie die Dinge, die ich mitgebracht hatte, sich Stück für Stück zu einem Mosaik zusammensetzten. Ein Rucksack, eine Erste-Hilfe-Ausrüstung, Verbandszeug und Medikamente, eine Automatikpistole, Munition, drei Bücher, deren Titel ich nicht erkannte, da er alles schnell wegpackte und sich dann den Rucksack aufsetzte. Das Buch, das ich ihm mitgebracht hatte, wanderte in seine Manteltasche.
»Sie werden es tun, nicht wahr?«
»Ich muß, Michael. Ich kenne Ihre Zeit und meine, und ich habe erkannt, daß man die Zukunft nicht sich selbst überlassen kann. Aber ich versichere Ihnen, daß Ihre Hilfe nicht umsonst war, nicht mit ein bißchen Glück, und das Glück begünstigt aufgeschlossene Geister.«
Er hielt das Messer ungelenk in der linken Hand und deutete auf den Bücherschrank. Dort lief ein Tonband, das ich bis dahin nicht bemerkt hatte. »Damit alles lückenlos aufgezeichnet wird«, sagte Bullivant. »Für die Nachwelt und so.« Er lächelte sanft. »Ich werde Sie vermissen, Michael Hull.«
»Und ich Sie. Aber sagen Sie mir eins. Die Bücher, die Sie eingepackt haben – welche sind das?« Er lachte, sein wieherndes, biberzähniges Lachen.
»Sie werden es erfahren, und wenn nicht, macht es auch nichts. Leben Sie wohl!«
Dann war er weg.
Ich ging ans Telefon und wählte die Durchwahlnummer unseres Londoner Büros. Nach fünf Jahren kam mir immer noch alles wie ein Traum vor: der Direktor der Firma Bullivant an meiner Tür, die Reise nach London, der Besuch des legendären Gewölbes unter der Küste von Wales, das angeblich von Bullivant selbst angelegt worden war. Dort wurde mir ein Blick auf die ausgefallenste Sammlung von Artefakten gewährt, die jemals in den Besitz von Menschen gelangt war: ein Rucksack, ein unter Glas aufbewahrtes Messer, ein Exemplar von Wells’ Zeitmaschine mit meinem Namenszug und ein brüchiges, vergilbtes Manuskript. Und die Bücher, die Bücher, die ich Bullivant mitgebracht hatte und die er mit ins Jahr 1853 genommen hatte. Die Bücher, die die industrielle Revolution in eine technokulturelle Renaissance verwandelt hatten: Wie funktioniert das? in zwei Bänden und Der Fahrplan der Weltgeschichte. Dazu eine Kopie von dem Werk Das große Zeitalter der Menschheit, mit Bullivant International aus allen Perspektiven auf der Vorderseite. Wie hätten sich die Dinge ohne ihn entwickelt? Und ohne mich?
»Zentrale London? Hier spricht Direktor Hull.«
»Ja, Herr Direktor?«
»Die restlichen Karotten sind eingetroffen. Haben Sie verstanden.«
»Ja, Herr Direktor.«
»Gut. Schicken Sie mir jetzt bitte ein Shuttle, ich muß einen Flug erwischen.«
Originaltiteclass="underline" ›Bullivant’s Knife‹
Copyright © 1986 by Mercury Press, Inc.
(erstmals erschienen in ›The Magazine of Fantasy and Science Fiction‹, Juni 1986)
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Utoprop, Hamburg
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Irene Bonhorst
Illustriert von Klaus Porschka
Václav Kajdoš
Der Drache
Falls du gelogen hast, verprügle ich dich wie einen Hund!«
»Ich habe nicht gelogen, Gebieter, ich würde nie lügen …«
»Wenn du gelogen hast, hetze ich die Doggen auf dich …«
Als die Hunde spürten, daß ihr Herr von ihnen redete, wurden sie munter. Sie tänzelten japsend an seiner Seite, und ihre Zungen hechelten gefährlicher als gewöhnlich aus den offenen Schnauzen.
»Ich lüge nicht, Gebieter«, wiederholte der Bauer traurig enttäuscht, aber der Reiter hörte ihm schon nicht mehr zu.
»Verdammte Hitze«, schimpfte er, nahm den wunderlich hohen Helm ab, zog ein rotes Seidentuch aus der Rüstung und wischte sich die Stirn.
Sicher ein kostbares Stück aus Ephesus, dachte der Alte, diese Ordensherren beschaffen sich all solch wollüstiges Zeug von den muslimischen Ketzern, aber wenn unsereiner bloß die Nase nach dem Orient dreht, wollen sie ihn schon auf den Scheiterhaufen schleppen. Er seufzte.
»Wir sind da, Herr.«
Deodatus de Gozon, Ritter des Ordens des heiligen Johannes, auch Rhodiser-Orden genannt, hängte den Helm an den Knauf und tätschelte sein Roß am Nacken. Die Hufe des Tieres stampften Staubkaskaden aus dem Wegebett. Vor ihnen tauchten die weißen Mauern eines verfallenen Kirchleins auf. Gott der Herr schien diese Stelle verlassen zu haben; und die die Kapelle einst gebaut hatten, waren ebenso verschwunden wie ihre Weinberge und Felder. Geblieben waren kahle Hänge; der Wind strich über sie und durchfächerte die dürren Gräser.
Auf der anderen Seite ragte ein Felsenriff empor wie ein Knochenfinger, und das Meerwasser, das ihn von drei Seiten umfing, platschte um seine Flanken.
Die Stute bockte, warf ihren Kopf hoch und schnaubte beunruhigt.
»Was hast du denn?« fragte Deodat sie freundschaftlich und streichelte ihre fast weiße Mähne.
Der Dörfler drehte sich um. Sein sonnengebräuntes Gesicht glich einer Gemme oder Kamee; Sommerhitze und beständige Not hatten es tief zerfurcht. Doch die Augen waren klar.
»Das war eine dem heiligen Stephan, dem Märtyrer zu Jerusalem geweihte Kapelle, Gebieter!«
»Und wieso fürchtet sich der Drache nicht vor dem Heiligen?« fragte der Ritter, hörbar mit Hohn in der Stimme.
Der Alte bekreuzigte sich. »Das ist weiter weg – dort hinten«, antwortete er hastig.
Mit furchtsamer Hand wies er auf den Felsen rechts in der Ferne, eine dem Meere abgewandte Berglehne.
Das Tal, das sich hinter der Kapelle absenkte, lag ganz im Mittagsschatten jenes Bergrückens. Mit der Meeresbrise zog eine trübe Kühle vom Meer herauf.
Der Reiter gab seinem Pferd die Sporen, so daß es sich bäumte und losgaloppierte. Lachend brachte er es wieder in seine Gewalt. Die beiden von der Hitze des Weges geplagten Hunde betrachteten die Prachtmähne mit müdem Staunen und folgten ihr schleppend.
Der Ritter hielt inne und versetzte dem keuchend herangekommenen Greis, tief sich hinunterbeugend, einen Puff in die Seite.
»Hör zu Alter – hast du ihn wirklich gesehen?«
Der Bauer schlug sich auf die Brust.
»Wie ich dich jetzt sehe, Gebieter.«
»Erzähle!«
Der Mann schüttelte sich.
»Meine Söhne weideten die Schafe da unten, dort wo die Höhle aus dem Felsen kommt. Es war wie jetzt gegen Mittag, ich wollte ihnen gerade das Mahl bringen, da erschrak ich; denn ich erblickte DAS deutlich schon von weitem.«
»Was hast du gesehen?«
»Es war plötzlich aufgetaucht.«