»ÄFTE, ÄFte, Äfte, äfte …« verhallte das Echo wie vorher. Der Gestank war nicht zum Aushalten. Die Angst kehrte obendrein zurück und schien ihn eher zu ersticken als die Gase. Er wollte schreien und schreien. Das Grauen abschütteln konnte er aber nicht. Überall herrschte weiterhin Stille, und nichts tat sich.
Unvermittelt ertönte etwas aus dem Tal. Hundegebell, lauter werdendes, sich näherndes Bellen. Die Kläffer waren Geronimu entwichen und hefteten sich an die Fährte ihres Herrn. In ihrem Eifer mißachteten sie den abscheulichen Gestank völlig.
Als ihr Besitzer die trockenen, rauhen Zungen zwischen seinen Wadenblechen und Schuhen fühlte, warf er die Last seiner Angst endgültig ab, schritt auf den Höhlenschlund zu, das Schwert im Griff über die Schulter gelegt und die Lanze mit der Linken im Anschlag.
Er wog sie in der Faust und bemerkte mit Vergnügen das Blinken der Sonne auf der scharfen, blanken Spitze. Noch geblendet, stapfte er los und umging einen großen Stein, die Hunde dicht an seinen Fersen.
Da – die Füße sanken in etwas Matschigem ein; er rutschte aus – und als er auf den Rücken fiel, raubte ihm der Fäulnisgeruch wieder allen Atem. Er drohte jetzt wirklich zu ersticken, dann begann er sich zu erbrechen, dazwischen ohne Geruchsempfinden Luft saugend und schluckend, während das Gestein, die Höhle und der blaue Himmel sich nach oben schoben, höher und höher. Er wand sich in Krämpfen, brach alles heraus, was er vor einigen Stunden in der Hütte bei Geronimu gegessen hatte. Dann gelang es ihm, sich auf den Ellbogen zu stützen – und er sah DAS.
Vor ihm lag ein Haufen schleimiger, stinkender Haut, eine Wirrnis wie von Lederfetzen, ein langgezogener Kopf mit einem großen Horn und starren Augen. Es schien, als ob es ihn noch boshaft beobachtete, aber das war eine Täuschung. Denn das, was hier lag und was ihn zu Fall gebracht hatte, war nur – der Kadaver eines Drachen.
Ja, das war er – so ein Ungetüm, von dem die Volkserzähler und die Barden berichten – groß und grauenvoll –, obwohl es sich schon nicht mehr bewegte, und die Sonne, die auf den Ort herunterbrannte, aus dem Aas einen Haufen ekelhafter Abfälle gemacht hatte.
Deodatus de Gozon betete. Er stellte sich vor, was das Ungeheuer lebend vermochte – er konnte sich auch denken, welche Chance er allein im Kampf mit dieser Bestie gehabt hätte. Er rang erneut nach Luft, diesmal trotz des Pesthauchs mehr aus Erleichterung. Das Vieh war gewaltig, bizarr – viel größer als ein Stier. Auch so, wie er hier lag, auf die Seite gewälzt, reichte ihm der Drache bis fast zum Gürtel, und die riesenhaften Fledermausflügel, auf denen der Ritter ausgerutscht war, machten den ganzen Boden zu einem rostbraunen Pfuhl.
Er warf den Kopf in den Nacken, bis ihn der Helm bremste, atmete, des Giftgestanks nicht achtend, abermals tief ein, mußte heftig niesen und fing an zu lachen, wild und glücklich. Das Gelächter hallte von den verschiedenen Felsen zurück und scheuchte ein paar Raben auf, so daß sie sich mit empörtem Gekreisch schwerfällig in die Luft erhoben. Er bekam einen längeren Hustenanfall. Dennoch spürte er eine wunderbare Erleichterung. Es war vorbei. Hier lag das Grauen, der Schrecken – ihm zu Füßen. Nicht einmal die Hand hatte er auszustrecken brauchen, und schon war es vorüber, so frohlockte es in ihm.
Mit beiden Fäusten zückte er das Schwert und hieb in zwei Streichen das widerliche Haupt vom Hals. Das war nicht einfach, und Deodatus konnte auch nicht verhindern, daß er wieder am ganzen Leibe zitterte, als er den abgetrennten Kopf noch argwöhnisch mit der eisenbehandschuhten Rechten abtastete. Er schnappte nach Luft und schritt auf die Höhlenpforte zu. Im Eingang stieß er sich an Resten von Skeletten. Das meiste stammte wohl von Schafen, aber dazwischen bemerkte er auch die Überbleibsel eines Esels.
Seine Nase war taub geworden. Er spürte nur, daß es in der Höhle noch angenehmer kühl war als auf dem Talboden, durch den der Bach floß.
Sein betäubtes Geruchsvermögen verhinderte nicht, daß die Stinkluft durch die Nase bis irgendwo in das Gehirn kroch. Der Edelmann mußte schon wieder Vorboten des Erbrechens unterdrücken, wiewohl er nichts mehr im Bauch hatte. Plötzlich stand er wie angefroren.
Es beobachtete ihn ein unbewegtes Auge. Daran war nicht zu zweifeln, an der hinteren Höhlenwand ragte etwas empor wie ein großer, deformierter Schatten. – Lange Minuten vergingen. Stirnschweiß maß ihm perlend die Zeit … – nichts. Grabesruhe, Pest und Moder – nichts weiter. Sein Befreiungsruf gellte ihm selbst in den Ohren in diesem niedrigen Raum. Nur ein Dummkopf fürchtet sich vor einem Aas, und das war das zweite – ein weiterer Drachenkadaver stak also hier und faulte vor sich hin; obwohl die Zersetzung in der kühlen Höhle nicht so weit fortgeschritten war wie bei dem Leichenhaufen in der heißen Sonne. Vorsichtshalber schützte er sich durch den Schild, als er sich dem – hoffentlich – toten Wesen näherte. Rasch stach er mit der Lanze zu. Die Spitze bohrte sich glatt durch die Schuppenhaut. Dies verwunderte ihn, stand es doch in krassem Gegensatz zu der Behauptung, welche die Barden über die undurchdringliche Härte der Drachenschuppen aufzustellen pflegten …
Vorsichtig zog er die Lanze wieder heraus und lief, noch immer nach Atem ringend, aus der Höhle, den Skelettresten und dem Unrat tunlichst ausweichend.
Auf dem Schräghang kniete er halb ohnmächtig nieder, betete und dankte inbrünstig. Zwei Drachen liegen hier tot, und die ganze Insel ist von der Gefahr befreit! Ist es keine Tapferkeit, wenn ein Mann die Furcht in seinem Fleisch überwindet? Ist der leere Schrecken, welcher den Helden lähmt und den Gemeinen wahnsinnig macht, nicht noch fürchterlicher und bösartiger als die lebendige Gegenwart solcher Ungeheuer? Ich habe die Feigheit bezwungen, mit Recht gebührt mir der Titel des Drachentöters gleich dem Patron aller heldenhaften Ritter, dem heiligen Georg, der auch einen Drachen schlug – doch um etliches kleiner als die beiden, welche ich, Deodatus, vor mir hatte. Jeder kann sich davon überzeugen, der die Gestalt des heiligen Georgs des Drachentöters und seines Gegners in Stein und Bild gesehen hat …
Nach dem Dankgebet und dem Luftschöpfen stieg er zu der ersten, äußeren Drachenleiche zurück, um die Hunde, die sich um die Leibesfetzen rauften, von ihrem Rasen abzubringen.
»Weg – ihr Aasköter!« schrie er heiser und trat auf sie ein. Niemand will so seltene englische Doggen verlieren, und das Drachenfleisch mag giftig sein, wie der Odem der lebendigen Bestie. Er schlug das Kreuz, spießte das abgehauene Haupt auf die Lanze. So schleifte er die Beute an der Stange nach, bis er bessere Luft erreichte. Er versuchte, den Spieß zu heben. Der elastische Lanzenstiel verbog sich wegen des Gewichts an seiner Spitze, doch er brach nicht. Mit einem Schwung warf Deodat ihn samt Trophäe über die linke Schulter, die rechte Hand mit Siegerpose am Schwertgriff. Stockheiser begann er ein Loblied auf die Heilige Jungfrau zu intonieren und eines auf den heiligen Johannes von Alexandria den Almosengeber, dem Namenspatron seines Ordens. An das vom Großkomtur verhängte Verbot dachte er überhaupt nicht. Er hatte die Drachen besiegt – er glaubte selber schon daran – und begann sich im Geiste am Staunen zu berauschen und an dem Ruhm, der sich auf seine jungen Schultern häufen würde, wenn er den ungeheuren Kopf der Bestie vor dem strengen Villanova niederlegen würde.
Er glitt und schlitterte den sonnendurchglühten Hang hinunter, die Hunde vor sich herscheuchend, bis zu der dunklen Grenze des Schattens, der von der gegenüberliegenden Berglehne fiel. Die Welt war wunderschön, und die Sonne schien noch mehr als vorher, und jetzt milde, ohne zu stechen.
Aber was war denn das? Durch das Tal zog ein vibrierender, in dieser Welt nie gehörter Klang.
Nein, es war kein Flöten- oder Saitenspiel, sondern ein Tönen, unheimlich durchdringend und disharmonisch. Es floß schließlich in einen einzigen, widerlichen Akkord zusammen. Es hing schmerzlich-schrill in der Luft, es schien aber auch aus dem Berginnern zu grollen. Die Felsen bebten und das Meer. Das Pfeifen deuchte die ganze Welt auszufüllen. Die Sonne verdunkelte sich.