»Ja! Ich will ein Kind! Wie kannst du sagen, daß es nicht wichtig sei? Wie kann ich mit dem Wissen leben, daß kein Mann, egal, wie oft ich seinen Samen aufnehme, mir je ein Kind schenken kann?« Dann verging Arains Wut, und Tränen rollten über ihre Wangen, während sie auf die Knie sank.
Sie weinte leise, und Mera hielt sie lange fest und streichelte ihr feines, weißes Haar, und auch auf ihren Wangen glänzten Tränen.
Ich war noch nicht alt genug, um alles zu verstehen, was ich gesehen und gehört hatte. Ich wußte, daß lebendige, gesunde Kinder ein Schatz und ein Segen der Götter waren, aber Arains Kummer konnte ich nicht verstehen. Ich wußte nichts über die Sehnsucht einer Frau nach Kindern. Und weil so viele unserer Frauen unfruchtbar waren, wußte ich auch nicht, daß Unfruchtbarkeit nicht natürlich war, und das machte es noch beängstigender.
Freund, ich will dir von dem seltsamen, fernen Land erzählen, in dem ich zum Manne reifte. Mein Volk lebte mehr als tausend Jahre am Umbya. Wir wohnten dort schon vor dem Krieg der Vier Städte, in dem Makna unsere Partei ergriff und die Berge erschütterte und den Verlauf des Flusses änderte, so daß er näher an seinem Tempel floß. Seitdem ist der Fluß oberhalb des Tempels breit und blau, und die Überschwemmungsgebiete sind üppig und fruchtbar. Aber unterhalb des Tempels heißt der Fluß Dred. Am Zusammenfluß von Dred und Senek standen einst drei große Städte. Sie sind schon lange zu Ruinen zerfallen, und unsere Vorfahren, die dort lebten, sind den Senek hinauf nach Nupask geflohen. Denn seit dem Krieg der Vier Städte ist der Dred ein giftiger Fluß, und seine Ufer und Überschwemmungsgebiete sind eine Wüste. Dort kann nichts lange leben.
Es kam der Tag, an dem ich vom Graben in der Grube, in welcher wir den Ton zum Töpfern hoben, aufblickte und Mera sah. Es war das erste Mal, daß ich eine meiner Schwestern ohne die andere sah.
»Kirth, kannst du eine Weile mit mir kommen? Wir müssen ein Stück laufen«, sagte sie.
Wie ich sie ansah, raubte mir die Angst meine Kraft. Die Lehmgrube lag Meilen von Handred entfernt, und Mera trug keinen Hut, und nichts schützte sie vor der Mittagssonne. Ihr Haar war vom Wind zerzaust; vielleicht war sie sogar gerannt. Ihr Gesicht und ihre Hände brannten schon rosa, und ihre bleichen Augen waren blutunterlaufen.
Ich stand auf, zitternd vor bösen Vorahnungen. So fremd und feindselig erschien mir in diesem Augenblick die Welt.
»Wo ist Arain?« fragte ich.
Mera lächelte kurz, als hätte sie Schmerzen. »Arain wird fortgehen. Ich dachte, du willst ihr Lebewohl sagen.«
»Fort?«
»Jana kam heute. Arain geht zum Tempel.« Mera nahm meine Hand. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir sie nicht verpassen wollen.«
Wir kletterten eine der Holzleitern hinauf, die am Rand der Grube standen. Sie kletterte zuerst, tastete nach jeder Sprosse und glitt oft aus. Sie war so lange in der Sonne gewesen, daß ihr Licht sie fast geblendet hatte.
»Wo ist dein Hut?« fragte ich.
»Ich habe ihn verlegt«, antwortete sie.
Aber ich glaubte ihr nicht. Ich war sicher, daß sie ihn vergessen hatte. Um mein Herz breitete sich eine tödliche Kälte aus, tief wie der Schnee im Winter. Mera spürte diese Kälte auch; sie spürte sie so mächtig, daß sie eine lebenslange Gewohnheit vernachlässigt hatte – den Hut, den einzig lebenswichtigen Gegenstand für einen Menschen mit farbloser Haut. Unsere Schwester Arain würde gefeiert werden. Die Bürger von Handred würden sich in den Straßen vor ihr verneigen. Aber wenn sie vorbei wäre, würden sie hinter vorgehaltener Hand sprechen. Denn mit dem Dienst für Feder war immer ein früher Tod verbunden. Arain durfte nicht zum Tempel gehen. Die Sonne selbst schrie es aus dem stillen, blauen Himmel.
»Warum geht sie? Und für wie lange?« fragte ich, als wir oben ankamen. Mera hielt sich an mir fest, während wir die Straße hinuntergingen.
»Es ist eine Ehre, Kirth. Arain dürstet es nach Wissen, nach den Geheimnissen des Tempels. Und Jana hat sie ihr versprochen.«
»Aber … aber das ist falsch. Ihr dürft nicht getrennt werden.« Ich klammerte mich an diesen Gedanken, wie sich ein ertrinkendes Tier an einen treibenden Ast klammert.
»Wir sind zwei Menschen. Wir wollen verschiedene Dinge«, sagte Mera, aber ihre Stimme schwankte, und sie sah mich nicht an.
»Aber dann muß sie sterben!« rief ich.
»Sei still, Kirth! Warum sagst du solche Sachen?« flüsterte sie. Aber während sie mich ermahnte, wurde ihr Griff um meinen Arm fester.
»Ich habe Angst«, gab ich zurück.
»Ja. Vielleicht habe ich auch Angst«, sagte Mera.
Mein Freund, obwohl Handred ein seltsamer Ort war, waren wir in mancher Hinsicht genau wie jedes andere Volk. Wenn im Winter der kalte Wind wehte, sammelten wir uns an den Feuern wie die anderen unserer Art. An diesen Feuern wurden viele Geschichten erzählt.
Man sagte, der Tempel von Handred sei das Werk von Makna. Man sagt, er sei am dunklen Anfang der Welt, vor der Großen Trockenzeit, als Monument für den Einzigen Gott Feder und als Gefängnis für seinen bösen Feind Radna gebaut worden. Kein Sterblicher hätte den Tempel bauen können. Seine Wände sind aus gewaltigen, glatten Steinplatten aus einem unbekannten Steinbruch gemacht. Und unter den sichtbaren Gebäuden liegt ein unendlich weites Netz von Gängen.
Bevor wir Das Buch fanden, glaubte ich wie jeder andere an diese Geschichten. Aber der Tempel wurde in Wirklichkeit nicht als Gefängnis gebaut. Viele Dinge der Welt verstehe ich nicht, aber ich weiß, was es bedeutet, einem Herrn zu dienen. Manchmal glaube ich, daß der große Makna sogar ein Diener von Radna war, und daß er den Tempel baute, weil Radna es verlangte.
Mera war viele Wochen krank, nachdem Arain zum Tempel gegangen war. Sie ließen mich nur zu ihr, weil sie oft nach mir fragte. Der Alte Mathias verstand es, wenn ich meine Arbeit nicht schaffte.
Meras Gesicht und ihre Handrücken waren schrecklich verbrannt und mit Blasen bedeckt. Wir wußten lange nicht, ob sie wieder würde sehen können. Sie bekam ein wütendes Fieber, so daß sie nicht mehr essen konnte. Aber noch viel schlimmer war die Krankheit in ihrem Herzen, auch wenn sie nicht darüber sprach. Sie fragte erst nach Arain, als sie vom Delirium überwältigt wurde. Dann rief sie immer wieder den Namen ihrer Schwester. Ich hatte Angst, daß sie sterben könnte. Ich machte mir große Sorgen, denn mir schien, meine beiden Schwestern entglitten mir vor meinen Augen. Und nach einer Weile faßte ich Mut und ging zum Tempel von Handred, um Arain zu suchen.
Es war ein sehr weiter Weg für einen heißen Sommertag, und obwohl die Straße am grünen Rand des Umbya verlief, war ich müde und erschöpft, als ich schließlich vor den dunklen Holztoren des Tempels stand. Ich war noch nie so nahe am Tempel gewesen, und ich wußte nicht, wie man hineinkam. Es war ein erschreckender Ort, ein toter Ort, gespenstisch und fremdartig. In der Nähe wuchs nichts; selbst die Vögel schienen ihn zu meiden. Es gab keine Bäume und kein Gras. Nur nackte, harte Erde und kahlen Stein und öde, fensterlose Gebäude, die sich zwischen den Felsen erhoben wie alte, graue Ungeheuer.
Ich fand keinen Klopfer und keine Türkette, und meine Fäuste machten auf dem dicken Holz der Tore nur ein leises Geräusch wie eine Motte. Aber ich war jung, und es fiel mir nicht schwer, die Lehmmauer zu überklettern und in den weiten Innenhof hinabzusteigen. Direkt vor mir stand ein flaches, graues Gebäude mit einem ebenen Dach und mächtigen Türen aus grünem, zerkratztem Kupfer. Auf den Türen stand etwas geschrieben, aber ich konnte es nicht lesen. Ich verstand die Buchstaben nicht, obwohl sie mir irgendwie bekannt vorkamen. Sie standen schon länger dort, als ich mir vorstellen wollte. Vielleicht hatte Makna selbst sie eingraviert.