Meine Aufgabe sollte darin bestehen, Mozarts Requiem in Auftrag zu geben, das ja bereits existierte.
Das versetzte mir einen schweren Schlag. Ich liebte die Zeit wie ein Schuljunge, der nur in seiner Phantasie die Angebetete berührt oder mit ihr spricht – deshalb hatte ich das Gefühl, sie besser zu verstehen als jeder andere. Ich kannte ihre Struktur, aus den Augenblicken der Stille, wenn das Vibrieren der Klaviersaiten ganz erstorben war, aus dem Höhepunkt einer Sonaten-Reprise und aus der Tiefe meiner Träume. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß es möglich war, die Zeit derartig zu vergewaltigen. Ich war damals wahrhaftig nicht mehr unschuldig und konnte Betrug akzeptieren, aber vielleicht waren gerade in meiner Vorstellung von der Zeit alle kümmerlichen Reste meiner Unschuld vereint. Manchmal hatte ich den Gedanken, daß ich keine Person war, sondern eine Sammlung von Erinnerungen, Ausdruck einer umfassenden Ökologie der Vergangenheit, deren Weiterentwicklung meine Gegenwart vollständig festlegte. Ich fühlte mich nicht mehr als ein Selbst, das über meiner Geschichte stand und sie steuerte; meistens war ich unsicher, ob ich lebte oder gelebt wurde, welche meiner Worte und Handlungen wirklich zu mir gehörten und welche dem Zeitgeist entsprangen oder Ausdruck der Kräfte waren, die mich geformt hatten. Ich weigerte mich, das Wort Liebe zu benutzen, aus Furcht vor Dantes zehnter Hölle, in der Falschmünzer mit Wahnsinn bestraft werden. Ich hatte mir ein perfektes logisches Gebäude für meine Passivität errichtet. Wie soll ich also erklären, warum ich den Auftrag annahm?
Wir wissen aus der Geschichte, daß ein geheimnisvoller Fremder bei Mozart eine Totenmesse bestellte. Der leidende Komponist kam nach und nach zu der Überzeugung, daß es sein eigenes Requiem sei, das endlich zu beenden er immer wieder gedrängt wurde. Die Arbeitsüberlastung und die ständigen Mahnungen seines gespenstischen Auftraggebers brachten ihn um. Meine Behörde wollte, daß ich mich in diesen geschichtlichen Ablauf einmischte. Ich hatte nicht die Absicht, das jemals zu tun. Ich scheute vor der Verantwortung zurück. Ich mochte Mozarts Musik gar nicht, sie war mir zu sehr an die Konventionen seiner Zeit gebunden (und gleichzeitig zweifellos die Vollendung dieser Konventionen). Sein Geklimpere, seine Zugeständnisse an den Zeitgeschmack, seine Gier nach Beifall oder wenigstens Zustimmung (als Kind fragte er nach seinen Konzerten die verlebten Höflinge und Prinzessinnen: »Hast du mich lieb? Hast du mich auch wirklich lieb?«), seine Bereitschaft, sich zu den miesesten Bedingungen zu verkaufen – Bedingungen, die ich für mich nie akzeptieren konnte. Aber dieselbe Stimme, die mich dazu getrieben hatte, Musik zu studieren, obwohl die Musik tot war, und meine Leidenschaft meinem eigenen Geschlecht zuzuwenden, obwohl ich wußte, daß es mich psychisch fertigmachte, sprach auch jetzt, und ich stimmte zu. Das war eine Perversion, die ich mit den Technikern gemeinsam hatte – in dem Moment, wo sich eine Möglichkeit eröffnete, gab es kein Zurück mehr. Die Idee bohrte in mir wie ein Zahnschmerz. Vielleicht konnte ich ihm Wissen schenken. Und letztlich war die Maschine auch ein Segen. Damit die Zeit nicht in grausamer Weise Menschen mißbrauchen konnte, wurde ihr Fortgang verändert. Revision, Schleife, Lücke, Aufschub – daß es dafür Worte gab mit fester Bedeutung wie für Zeit und Reise (wenn auch aneinandergepreßt wie Ehebrecher), das war ein starkes Argument dafür, sich auf den Zauber der Zeit einzulassen. Auch wenn das ganze Projekt ein Schwindel sein sollte und wir der Vergangenheit nicht näherkamen als in Träumen, Erinnerungen oder Halluzinationen, konnte ich der Versuchung, eine ganz neue Zeiterfahrung zu machen, nicht widerstehen. Und es ging ausgerechnet um Mozart, mit dem die Zeit von allen Menschen am grausamsten umgesprungen war! Wenn ich es nicht tat, dann würde irgendein anderer Streber mit dem Wissen zurückkehren. Ich konnte das besser. Obwohl Ehrgeiz wie Eigenliebe den endgültigen Verzicht des Willens auf Sinn bedeutet, hatte ich das Gefühl, vielleicht doch noch einen Sinn entdecken zu können. Vielleicht war ich auch nur genauso ein mieser Typ wie die anderen. Vielleicht waren wir schon in einem so krankhaften Zustand, daß persönlicher Ehrgeiz noch das vornehmste Leiden war, für das wir uns entscheiden konnten. Die Gründe sind letztlich nicht so wichtig (wenn man im Bewußtsein dieser neuen Bedeutung von Zeit das Wort ›letztlich‹ überhaupt noch benutzen kann) – ich nahm den Auftrag also an.
In meiner Vorbereitungszeit studierte ich das damals gebräuchliche Deutsch, pflasterte meine Wände mit Karten und Computerprojektionen von Wien; ich erhielt stilechte Kleidung sowie einige Impfungen und machte mich vertraut mit Mozarts Tagesablauf an jedem Tag meines geplanten Aufenthaltes. Nach ein paar Wochen war ich soweit. Neben den weißen Apparaten stand ich im Labor – ein lächerlicher Kavalier in meinem schwarzen Umhang, dem breitkrempigen grauen Filzhut und den Lederstiefeln. Der Gürtel um meine Hüften war gefüllt mit Florinen, Dukaten und Gulden.
»Du stinkst nach Scheiße«, sagte ein Assistent.
»Das gehört zum Kostüm«, meinte der Direktor grinsend. »Wir dürfen ihn nicht waschen. Außerdem rochen die Herrschaften damals so.«
Einen Monat lang hatte ich eine strenge Diät eingehalten und nicht geraucht. Gewaschen hatte ich mich nur mit Pottasche. Substanzen, die der Zielzeit fremd waren, konnten die Barriere nicht passieren. Wenn in meinem Körpergewebe Stoffe abgelagert waren, die es erst heute gab, konnten sie mich beim Transfer in Stücke reißen. Meine Kleider waren zwar maschinell genäht, aber mit Baumwollgarn; das Geld war eine Fälschung aus dem Originalmetall, perfekter als echte Münzen.
»Ihr wollt mir keine Identität mitgeben?« fragte ich noch mal. Ich hatte nur meinen eigenen Namen zum Reisen.
»Du brauchst keine. Du hast genug Geld, um dich aus jeder Schwierigkeit freizukaufen.«
»Wieviel kriegt Mozart von dem Geld?«
»Fünfzig Dukaten! Das weißt du oder solltest es wissen. Nicht einen Groschen mehr. Und wenn du dich in zwei Wochen nicht an genau dem Punkt befindest, wo wir dich abgesetzt haben …«
»Ich weiß, dann kann ich vielleicht nie mehr zurück.«
»Das ist kein Witz. Und vergiß nicht, du begegnest ihm nur zweimal! Sei höflich, benimm dich natürlich …«
»Ich weiß!«
»Denk daran«, sagte der Direktor, »wir wollen keine Komplikationen.«
»Komplikationen?«
»Keine Verführungen.«
»Verführungen! Als ob ich jemals der Verführer wäre.«
»Ja, Verführungen. Das ist eine Sache hier und jetzt, aber eine ganz andere, dieses Geschäft durch die Zeit zu tragen.«
»Keine Angst.« Seine Bemerkung hatte mich getroffen. Eine Beleidigung war die kritische Reduzierung der Komplexität eines Menschen auf ein einzelnes Wort oder eine Geste. In diesem Sinne war Sex dann eine Beleidigung, wenn seine Möglichkeiten verschwendet wurden, wenn nicht das volle Ausmaß der Sünde erarbeitet wurde, sondern das Ganze einfach ablief, wenn der Schwanz, eingespannt in den Schraubstock der Lust, nicht führte, sondern einen ohne Aufmerksamkeit hinterherzog – solche Beleidigungen – muß ich es sagen? – versuchte ich immer zu vermeiden. Wie Vico von Odysseus sagte: Ich versuchte stets, in meinen Worten anständig und in meinen Handlungen gelassen zu bleiben, auf daß andere nur aus sich selbst heraus dem Irrtum verfielen und selbst den Grund für ihre Enttäuschung legten. Und er sah mich als einen Verführer. Ich fühlte mich beschimpft.
Damit sandten sie mich zurück. In einem Augenblick freudloser Euphorie war ich weder Teil der Gegenwart noch der Vergangenheit. Ich war von allem abgeschnitten. Ich balancierte an der Grenze zwischen Grauen und Entzücken, fühlte mich betrunken oder erschöpft oder im langen Rausch eines Orgasmus, der all die Stunden der vorbereitenden Anstrengung in einem einzigen unklaren Moment komprimierte, und dieser Moment dauerte fort, dehnte sich, bis in der Stille das Getriebe der Geschichte zu hören war und das Wehklagen der Toten das Schweigen erfüllte. Es war der Moment, in dem man die nahende Änderung wahrnimmt und weiß, daß man keine Kontrolle hat und sich allem Geschehen fügen muß. Plötzlich war ich in Wien.