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»No! Wer bist denn du?«

Ich drehte mich um und sah einen fetten Wirt an seinem Hosenknopf fingern. Eine Urinpfütze dampfte in der Gasse. Er sah mich von oben bis unten an und wurde blaß.

»Entschuldigend, gnädiger Herr.« Meine Kleidung bescherte mir diese Höflichkeit.

»Ist schon gut. Sag mir … kennen Sie ein Herr Mozart?«

Er schürzte mißtrauisch die Lippen. Vielleicht hatte ich einen grammatikalischen Fehler gemacht.

»Mozart? Der Musikant?«

Ich lächelte über den herabsetzenden Ausdruck. »Komponist.«

»Ja freilich, der tut hier ab und zu aan Kaffee trinken.« Und er wies dabei mit dem Daumen zur Kneipentür.

»Tausend Dank.« Ich gab ihm eine Münze.

»Is scho recht.« Stolz wandte er sich ab und schlurfte in seine Kneipe zurück.

Ich ging zur Vordertür und hielt einen Moment lang inne. Der Transfer hatte Spuren von Rauch, Ausscheidungen, Ausfluß, Waschmittel und Konservierungsstoffen von meinem Körper entfernt und ihn wie geschält zurückgelassen. Ich fühlte mich sorglos und überlegte, ob auch eine Facette meines Bewußtseins von irgendeiner Chemikalie meiner Zeit reingewaschen worden war. Ich spürte genau die mich umströmende Luft scharf durch meine Kehle rinnen und hörte jedes Geräusch. Seit Jahren waren meine Sinne nicht so wach gewesen. Ich lehnte an einem Eisengeländer und spürte seine Wärme an meinen Händen. Kutschen klapperten, es roch nach Pferden, Staub wirbelte auf. Schwalben schossen am leicht bewölkten Mittagshimmel hin und her. Ein Lied stieg in mir auf. In Los Angeles unterrichtete ich in einem düsteren Klassenraum; die bleierne Luft, das tote graue Licht, das durch alte Glasscheiben hereinfiel, der ununterbrochene Lärm von Bauen und Abriß draußen, das alles waren Hemmnisse für den zerbrechlichen Geist der Musik, die ich lehrte. Wir werden dieser leichten, klaren Musik vielleicht gar nicht mehr gerecht. Sie erregte weder Ekel noch Begehren, die einzigen Energiequellen für uns. Dafür schlug sie, einfach wie ein Vogelherz, einen lebendigen Rhythmus, der anders war als der von Maschinen oder von den Giften in unserem Blut. Aber jetzt umflutete mich die Empfindung dieser Musik, und ich war dankbar.

Drinnen saß er allein an einem Tisch in der Ecke. Ich verliebte mich sofort in ihn. Seine Züge waren den meinen nicht unähnlich, aber weicher, weniger scharf geschnitten, als wollte die Zeit ihn in keiner Weise kennzeichnen, sondern ihn nur in völliger Gleichgültigkeit benutzen. Er war älter als ich, aber ich fühlte mich väterlich. Er hatte immer noch den traurigen, süßen, verletzlichen Blick, den er mit sechs gehabt haben mußte.

»Herr Mozart?«

»Nein.«

»Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart.«

»Nein! Heiße Amadeus.«

»Amadeus«, sagte ich erfreut. »Was für ein Zufall, das ist auch mein Name.« Ich setzte mich ihm gegenüber und sprach weiter in sorgfältigem Deutsch.

»Ein schöner Name. Meine Mutter gab ihn mir. Ich glaube, er bedeutet Gottlieb. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«

»Ja. Aber ich … ich würde lieber Wein trinken.«

Ich bestellte zwei Glas Wein und musterte ihn würdevoll.

»Geehrter Herr Mozart. Ich möchte eine Messe bestellen, eine Totenmesse.«

»Für wen?«

»Mein Auftraggeber möchte anonym bleiben, aber er zahlt Ihnen, was Sie verlangen.«

Es klang, als würde ich einen Text ablesen, was ich ja auch tat. Aber ich mußte der Behörde dafür einstehen, daß er den Preis von 50 Dukaten nennen würde.

»Ich weiß nicht. Ich schreibe gerade an einer Oper, meine Frau ist schwanger, sie mußte nach Baden reisen, also … hm … ich habe viele Ausgaben!«

Schulden, meinte er. Er hatte fürchterliche Schulden. Seine hilflose Bemäntelung rührte mich.

»Fünfzehn Dukaten jetzt? Und 50 bei Lieferung?«

»Ja, abgemacht. Ich langte in meinen Gürtel und zählte in einer plötzlichen Regung hundert ab.«

»Und bei Lieferung dasselbe noch mal.« Er bedeckte die Münzen mit einer Hand und schob sie zur Tischdecke. Ich schämte mich. Er brauchte fünfzigmal so viel.

Ich würde ihn für den Rest meines Aufenthaltes nicht mehr sehen, erst wieder kurz vor meiner Rückkehr. Das waren meine Anweisungen. Aber ruhelos begann ich an seinem Haus in der Rauhensteingasse herumzustreichen. Ich sah ihn an einem dreckigen Fenster im zweiten Stock und wie er bei meinem Anblick zurückfuhr. Das war seine Angst, noch nicht zum Grauen erstarrt: daß ich der Bote einer anderen Welt war und ihm die Nachricht von seinem Tod brachte. Das kam der Wahrheit so nahe, daß ich in einer plötzlichen Sehnsucht, die Macht dieses Bildes zu zerstören, die Treppen hinaufrannte und klopfte. Er antwortete schnell und verängstigt.

»Was ist? Sie kommen wegen des Requiems? Ich habe zu tun, ich hatte noch keine Zeit …«

»Nein, nein, ich wollte nur Guten Tag sagen. Darf ich eintreten?«

Er zögerte einen Moment lang und zog dann die schwere Tür auf. »Störe ich?« Sein Schreibtisch war mit Papieren übersät.

»Nein, wirklich nicht. Eine Oper.«

»Die Zauberflöte?«

»Ja. Woher wissen Sie …«

»Das Titelblatt.«

»Oh, natürlich. Ein lächerliches Stück, nur wegen des Geldes, für Schikaneder, wissen Sie. Aber er will es spätestens nächste Woche, und … und wenn ich es nicht umschreibe, will er nicht zahlen, aber er … er hat die erste Niederschrift und sagt, er zahlt nicht, wenn ich es nicht fertigschreibe, aber er wird es so oder so auf die Bühne bringen, ich habe nicht genug Zeit, ich habe nie genug Zeit, und jetzt, Constanze ist weg … ich schaff’s nicht, ich schaff’s einfach nicht!«

Er fing an zu weinen. Eine ungewohnte Sympathie erfüllte mich: anders als alle, die ich kannte, anders als ich selbst, war er an der Kompliziertheit seines Schicksals unschuldig. Verlegen und in dem Wunsch, es ihm leichter zu machen, nahm ich ein paar Seiten von seinem Schreibtisch und fragte:

»Kann ich Ihnen dabei helfen?«

»Helfen? Entschuldigen Sie, ich wollte das nicht. Aber helfen? Sind Sie Musiker?«

»Ich kenne Ihren Stil. Ich könnte … na ja, Stimmen schreiben, oder ein bißchen etwas einflicken da und dort. Als Beweis meiner Wertschätzung und damit Sie es fertigkriegen.«

»Das ginge.«

So gelangten die Entwürfe für einen Akt der Zauberflöte in meinen Besitz. Meine Arbeit auf diesen wunderbaren Seiten war eine Schulung. Ich verstand die Bemerkung eines Kollegen, daß Mozart zu leicht für Anfänger und zu schwer für Könner sei. Die Melodien waren gefällig und wendig, und ich konnte an einem Abend problemlos drei oder vier Begleitstimmen fertigschreiben, so wunderschön trugen die Melodien die Saat ihres Wachstums in sich. Oft merkte ich erst, wenn die Lampe flackerte, daß nicht erst 10 Minuten vergangen waren, sondern ich ein halbes Dutzend Seiten geschafft hatte und der Docht geschneuzt werden mußte. Ich fand, daß ich diese paar friedlichen Nächte verdient hatte.

Aber ich war nicht frei. Tagsüber war mir bewußt, daß ich unter Toten wandelte, und nachts, nach der Musik, war mir bewußt, daß meine Toten noch nicht einmal geboren waren. Gesichter, die ich sah, erinnerten mich an Menschen, die ich kannte, und ich erntete feindselige Blicke. Zweimal hielt mich die Polizei an, und es kostete fünfzig Gulden, sie dazu zu bringen, über meine fehlenden Ausweispapiere hinwegzusehen. Scharlach grassierte in dem Sommer in Wien, und ich hatte Angst, daß meine Impfungen den Transfer nicht überstanden hatten. Ich hatte ein bedrohliches Gefühl nahen Unheils. Es war elend heiß in der Stadt. Es kam mir so vor, als ob ich keinen Herbst mehr erlebt hätte, seit ich mit neun Jahren New York verlassen hatte. Meine Sinne erinnerten sich an eine Brise kühler, stinkender Luft vom East River im Oktober und an das dürre Gras in dem winzigen Park zwischen Türmen aus Stein, in deren Fenstern sich der graue Himmel spiegelte. Ich spürte in mir die ersten Vorboten von Verlust und das bittere Wissen, daß niemand es schafft, so gut zu sein, wie es nötig wäre.