»Lacrimosa, dies illa, qua resurrexit ex favilla …«
Ich hatte keine Worte mit abgeschrieben. Ich bezweifelte, daß er die Noten entziffern konnte. Nein, er erinnerte sich an etwas, das er noch nicht geschrieben hatte oder komponierte es beim Singen. Als die leeren Seiten in seiner Hand zitterten – ich hatte das Papier 2016 bei einer Versteigerung von Beethovens Notenpapier in Bonn gekauft, damit es garantiert die Passage überstehen würde, jetzt war es unnützer Tand – fiel mir ein, was ich mit sieben oder acht Jahren in der Lincoln-Zentralbibliothek zwischen meinen Stunden am Juilliard-Konservatorium über die Biographien von Komponisten gelesen hatte. Ich war erschüttert gewesen, wie unbarmherzig die Zeit alles auslöschte. Bachs Grab wurde nie gefunden; ein Gewitter empfing Beethovens Seele; und dieser traurige junge Mann würde mitten in einem nächtlichen Unwetter sterben und am 6. Dezember dieses Jahres in ein Armengrab kommen, seine wenigen Freunde von Regen und Schnee zurückgetrieben, bevor der Friedhof erreicht war – am Grab nur noch die Totengräber. Sogar seine Züge würden der Nachwelt verlorengehen und nur noch in stümperhaften Porträts überliefert werden – seine Totenmaske würde ein paar Jahre später herabfallen und zerbrechen. Wie ein Asket seinen Körper kasteit, um Gott näher zu kommen, wie ich jeden Gedanken und jede Handlung meinem schlechten Gewissen unterwarf, um irgendwie ein wenig persönliche Würde zu erreichen, so schien die Zeit alles spezifisch Menschliche bei jedem Künstler auslöschen zu wollen, als ob sie Mozarts Musik ohne Mozart haben könnte.
»Kennst du mein weiteres Leben? Wann werde ich sterben? Werd ich das Werk fertigstellen?«
Ich konnte nicht sprechen.
»Ich weiß, daß ich nicht viel Zeit habe. Wieviel?«
»Das steht nicht fest. Meine Gegenwart ändert die Dinge.«
Er drehte an seinem leeren Glas. Schließlich sagte er: »Schick mich statt dessen.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Du sagst, deine Zeit sei dir feindlich. Meine mir auch. Bleib hier und laß mich an deiner Stelle zurückkehren.«
»Aber das geht nicht, es gibt Regeln, das ist, als ob du die Tonart von E-Dur nach B modulieren wolltest, das kannst du nicht …«
»Aber ich habe es getan, in einem Quartett. Es gibt immer einen Weg, wenn du wirklich willst und deine Kunst beherrschst.«
»So einfach ist das hierbei nicht«, sagte ich bitter. Ich wollte ihn beleidigen, aber er merkte es gar nicht. – »Meine Zeit ist lebens- und kunstfeindlich; du … du würdest dort nicht überleben.«
»Hier auch nicht.«
Ich senkte den Blick. Eine Fliege war in meinem Weinglas gelandet, und ich sah müßig zu, wie sie um ihr Leben kämpfte. Durch ein Fenster fielen Sonnenstrahlen in das Glas, und die Anstrengungen der Fliege malten ein Tanzmuster auf den Tisch. Auch er sah zu.
»Ich würde dich herausfischen«, sagte ich zu der Fliege, »aber du machst so schöne Muster. Du würdest wahrscheinlich lieber leben als schöne Muster machen. Das ist ein weitverbreiteter Irrtum.«
Er tauchte seinen Finger in meinen Wein und rettete die Fliege.
Ich nahm seine Hand und drückte sie. Mein Herz schlug, und ich rang nach Atem.
»Wolfgang. Wolferl, geliebter Amadeus … Ich möchte mit dir schlafen.«
Er fuhr zurück und starrte mich mit einem wilden Blick an. Dann führte er langsam meine Hand an seine Lippen.
Als wir zur Rauhensteingasse gingen, war ich von heiterer Fröhlichkeit durchströmt.
»Die Liebe, die nicht wagt, ihren Namen zu nennen«, sagte ich. »Ein Ire hat es so genannt.«
»Ein Ire in der Zukunft?« fragte er spielerisch.
»Ja, aber nicht so weit wie ich.«
In seiner Wohnung war es nicht das übliche Rein und Raus. Wir bewegten uns sanft, wie in einem Traum. Ich dachte: Sex ist Austausch. Um es kurz und präzise zu formulieren, wird etwas von einem an den anderen weitergegeben, und es wird aufgenommen oder zurückgewiesen. Obwohl ich von meinen Liebhabern diesen Dienst erwartete und fast forderte, konnte ich selbst die Glitschigkeit des Samens und seinen heißen Geschmack auf meiner Zunge kaum ertragen. Das war jetzt anders. Ich war begierig danach und hielt ihn lange, nachdem er zugestoßen und sich zurückgezogen hatte. Ein Raum des Schweigens entstand.
»Ich wollte nicht …«
»Ist schon gut.« Aber er war niedergeschlagen und befangen. In seinen Augen stand Vorwurf.
»Aber hast du mich lieb? Hast du mich auch wirklich lieb?«
Fast hätte ich gelacht. Dann erhob sich eine große Welle von Trauer, meine lange Vergangenheit von schlechtem Gewissen und Schweigen, und ließ mich ernst werden. Ich dachte an all die Jahre, in denen ich diese kurzen Worte, die uns so unglücklich machen, vermieden hatte. Ich dachte daran, wie ich alles Glück damit genauso vermieden hatte, und beteuerte mir innerlich, daß damit jetzt Schluß sein würde.
»Ja. Ich liebe dich. Mehr als mein Leben.«
»Mehr als dein Leben?«
»Mein Leben«, scherzte ich, »ist nicht liebenswert.«
»Dann hilf mir.«
»Du meinst, du willst immer noch …? Mein Gott. Du würdest Constanze und Franzerl verlassen, und deine Arbeit …«
»Ich sterbe sowieso! Ich weiß es! Was kann ich hier schon noch tun. Aber du bist gewandt, gesund, reich, kennst dich mit Musik aus und würdest mit diesen Leuten klarkommen, mit Schikaneder und … und Puchberg, van Swieten, du lieber Gott, was sie verlangen ist widerlich! Nur für ein paar elende Dukaten!«
»Was? Du machst das mit … mit …«
»Bitte!«
»Aber ich, ich bin korrupt genug, mir würde das nichts ausmachen, meinst du das, ich könnte deine Musik fälschen, deine Karriere, erfolgreich sein, wo du es nicht geschafft hast, das denkst du doch?«
»Aber du wärest ich.«
»Und du ich. Könntest du damit leben? Denkst du, du wärst dem gewachsen, was das Leben von mir verlangt?«
»Hier sterbe ich«, sagte er ruhig.
»So. So. In Ordnung. Zieh meine Sachen an.«
»Meinst du wirklich?«
»Zieh dich an!« Ich hätte ihm das Geld dagelassen. Er hätte sich zurückziehen und noch zehn Jahre in Frieden leben können, ohne Ärger mit Rechnungen oder dem angefangenen Quartett auf seinem Schreibtisch. Ich hatte ihm den Schlüssel zu diesem Frieden geben wollen.
Wir eilten zur Taverne und gingen in den Hinterhof.
»Stell dich hierher!« sagte ich und plazierte ihn an die Stelle, wo ich gestanden hatte. Ich trat ein paar Schritte zurück. Es blieben vielleicht noch fünf Minuten. Er konnte nicht für mich gehalten werden. Er war fünf Zentimeter kleiner, der Umhang schleifte im Dreck. Keiner würde ihm auch nur eine Sekunde glauben, es sei denn, die Zeit würde Korrekturen vornehmen, es sei denn, Gedächtnis und Charakter konnten so leicht ausgelöscht werden wie Worte. Es dämmerte, und Zweifel stieg in mir auf. Wenn unser gemeinsamer Name – Gottlieb – von Gottes Vertrauen in uns sprach, betrogen wir Ihn nicht, wenn wir unsere Zeit verließen? Wenn Er noch nicht geboren war, verdammten wir nicht nur uns selbst durch eine solche Veränderung der Geschichte. Wozu brauchte Er die Zeit, wenn nicht zum Wachsen? Und warum hatte Er uns den Zeitsinn gegeben, das Geschenk der Musik, wenn nicht, um unsere Hilfe zu gewinnen? Ich wollte sprechen, aber da griff Mozart sich an die Brust und starrte nach oben.
»Oh«, schrie er.
Ein prickelnder Zukunftssog ergriff mich. Plötzlich wurde ich wieder durch das Sieb des Werdens gepreßt, und alles, was nicht wirklich zu mir gehörte, wurde weggerissen; ich fand mich im Laboratorium auf Knien und Händen, zitternd und schwitzend von dem Verfall und Ekel meiner Zeit. Ich spürte wieder den sicheren stetigen Griff der Zeit nach meinem Herzen wie eine Krankheit und wußte, daß ich wieder zu Hause war. In meinem Innern fühlte ich das vollendetste aller Kunstwerke, eine echte Träne des Mitleids für einen anderen – er war schlimmer dran als ich –, und dieser teuerste aller Edelsteine, das Destillat von all meinem Schmerz, meiner Liebe und meinem Verlust, rann mir über die Wange und tropfte auf eine Kachel.