Abermals fand ich keinen Klopfer, und diesesmal wußte ich nicht weiter. Der Hof war leer, und niemand war zu sehen.
Plötzlich hörte ich hinter mir eine Stimme. »Was willst du, Kind?«
Ich fuhr erschrocken herum und sah einen hageren, bleichen Mann. Sein Haar war dünn und schütter, und seine dunklen Augen hatten einen milchigen Film wie die Nickhaut eines Falken. Ich hätte vor Abscheu beinahe geschrien.
»Ich muß zu Arain«, erwiderte ich, als ich mich wieder in der Gewalt hatte.
»Dann bist du ihr Bruder, was?« sagte der Fremde.
»Woher weißt du das?«
»Das ist nicht schwer zu erraten, Kind. Sie hat mir einiges über sich erzählt, auch von dir, zum Beispiel. Dein Name ist Kirth, was?« Er grinste. Seine verfärbten Zähne saßen wie Grabsteine im wunden, geschwollenen Zahnfleisch.
Er war so schrecklich, daß ich plötzlich eine unvernünftige Angst um Arain bekam.
»Was habt ihr mit ihr gemacht? Ich will sie sehen!« rief ich.
»Du bist genau wie sie«, murmelte er und spuckte rötlichen Speichel in den Staub. »Mach dir keine Sorgen. Ich hole sie.« Und er schritt die Treppe hinauf, zog die Tür auf und verschwand, immer noch murmelnd, dahinter.
Noch nie waren mir die Minuten so langsam vergangen wie an diesem Tag, während ich in der Sommersonne stand und darauf wartete, daß sich die Türen des Tempels von Handred wieder öffneten. Ich kann nicht einmal sagen, wovor ich Angst hatte. Wenn nicht der Mann, sondern ein Tier gekommen wäre, dann wäre ich zweifellos sofort meinen Instinkten gefolgt und hätte den Ort verlassen, wie es die Vögel getan hatten. Aber so zitterte ich nur und zwang mich zu bleiben.
Endlich schwangen die Türen auf, und Arain trat aus der Dunkelheit. Sie trug das lange, schwarze Gewand des Dienstes, gegen welches ihr Gesicht und die Hände und das Haar leuchteten wie der Mond.
»Kirth, warum bist du hergekommen?« fragte sie sofort.
Ich öffnete den Mund, um ihr zu antworten, aber ich fand keine Worte. Ich stand wie ein Idiot da, nachdem ich sie an diesem schrecklichen Ort lebend und wohlauf gefunden hatte, und ich bemühte mich verzweifelt, etwas über die Lippen zu bringen.
»Was ist los, Kirth? Du zitterst ja«, sagte Arain und kam rasch die Treppe herunter, um mich in die Arme zu schließen. Es war eine vertraute Geste, die mich oft sehr getröstet hatte. Wir setzten uns auf die unterste Stufe. Meine Wange gegen das rauhe, warme Tuch ihres Gewandes gepreßt, in den Ohren das starke, unablässige Pochen ihres Herzschlags, kehrte mein Mut zurück.
»Wer war dieser Mann?« fragte ich.
»Lieber Kirth! Hat er dich erschreckt? Das war nur der arme Geoff, der Verrückte. Er wollte dir nichts tun. Aber sag mir, warum du gekommen bist.«
»Mera … Mera hat nach dir gefragt.«
Zuerst antwortete Arain nicht. Sie senkte den Kopf, und ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Als sie dann sprach, kamen ihre Worte zögernd. »Mera weiß, daß ich nicht kommen kann. Es … es ist falsch, uns solchen Kummer zu machen.«
»Aber sie ist krank. Sie weiß gar nicht, daß sie nach dir gefragt hat. Sie hat mich nicht geschickt. Ich bin gekommen, weil ich selbst es wollte.«
Ich spürte, wie ihr Herzschlag unter dem schwarzen Gewand schneller wurde. Wie schrecklich müssen meine Worte für sie gewesen sein; Arain und Mera hatten jeden Schmerz und jede Freude geteilt. Allein schon, daß es in einer so wichtigen Angelegenheit einen Boten brauchte, war ein grausamer Beweis für ihre Entfremdung.
»Sie ist von der Sonne krank. Als sie zu mir kam, um mich zu holen … damit ich mich von dir verabschieden konnte. Sie hatte ihren Hut vergessen, und nun ist sie blind, und manchmal erkennt sie mich nicht. Ich habe Angst«, fuhr ich fort.
Die schmalen Linien in Arains Gesicht vertieften sich, während sie zuhörte. Sie nahm mich an den Schultern und sah mich eindringlich an. »Kirth, du mußt tun, was ich dir sage. Es ist einem Novizen verboten, den Tempelbezirk zu verlassen. Sie werden mich aufhalten, wenn ich es versuche. Aber wenn ich bis Einbruch der Nacht warte, wird es niemand merken. Ich kann im Schatten gehen, und niemand wird mich sehen. Wir müssen uns im Dunkeln irgendwo treffen.«
»Aber wo? Und was ist, wenn sie dich erwischen?«
»Jana ist keine freundliche Frau. Wenn ich irgendeine andere Novizin wäre, würde man mich ohne Chorhemd unter die Erde schicken. Aber ich bin stärker als Jana, und viele sind an meinem Wohlergehen interessiert. Ich fürchte sie nicht.«
Auch heute noch erfüllen mich diese Worte mit Liebe und Bewunderung. Sie wußte sehr genau, was sie für Mera aufs Spiel setzte. Und ich wußte es auch. Die Körper jener, die ungeschützt unter die Erde geschickt wurden, werden an Stangen gebunden durch Handred getragen. Diese armen Seelen, die Radna ohne Chorhemd gegenübertraten, kommen steif und verzerrt wieder heraus, als hätten sie unerträgliche Krämpfe gehabt, und sie sind mit ihren eigenen Exkrementen besudelt. Es gibt keinen schlimmeren Tod.
»Du mußt sofort wieder gehen, und du mußt meine Anweisungen strikt befolgen«, sagte Arain. »Geh nach Handred zurück! Wenn du wieder hohe Bäume und Gras am Fluß siehst, mußt du sofort anhalten und baden und deine Kleider auswaschen.«
»Aber warum?«
»Versprich mir, es zu tun. Dann verstecke dich in den Weiden an der Straße und warte auf mich. Ich verspreche dir, daß ich komme. Und jetzt lauf. Lauf so schnell du kannst!«
Die Angst vor dem Tempel und die Freude darüber, aus seiner Macht entlassen zu sein, machten meine Beine stark und schnell, und ich floh glücklich und mit heißem Wind im Gesicht. Als ich eine Stelle erreichte, an der die Ufer des Umbya grün und dicht mit Weiden bestanden waren, zog ich mich aus und schwamm im kalten Wasser. Dann spülte ich meine zerlumpten Kleider aus und legte sie zum Trocknen auf die flachen Steine. Ich wunderte mich über diese seltsamen Anweisungen.
Lange nach Einbruch der Dunkelheit, als die Frösche und Grillen ins Lied des mächtigen Flusses eingestimmt hatten, kam Arain vom Tempel.
Ich stellte ihr die ganze Nacht über viele Fragen, während wir auf der Straße nach Handred zurückgingen. Ich machte mir nichts aus den Steinen unter meinen Füßen und aus der großen Wegstrecke. Denn Arains Antworten führten mich zu immer drängenderen Fragen.
Ich fragte sie, warum sie mir befohlen hatte, mich am Fluß zu waschen.
»Der Tempelbezirk ist vergiftet wie der Dred«, sagte sie. »Man glaubt, daß das Gift ausgewaschen werden kann.«
»Hast du dich heute nacht auch im Fluß gewaschen?« fragte ich.
»Ich wasche mich oft dort, wo der Kalte Bach aus den Hügeln herunterkommt. Mach dir keine Sorgen, kleiner Bruder.«
Aber ich machte mir Sorgen. Wenn der Tempel so übel und giftig war, wie er schien, fragte ich sie, warum war sie dann in den Dienst gegangen? Welche Ehre war diesen schrecklichen Preis wert?
»Im Schein des Abendfeuers haben wir über gewisse Rätsel gesprochen. Zum Wohl von uns allen will ich die Lösungen finden.« Ihre Stimme war gedämpft, als wir im Sternenlicht wanderten.
»Das Rätsel von Makna und dem Tempel?« fragte ich.
»Ja. Rätsel über den Anfang der Dinge. Über den augenblicklichen Stand der Dinge. Mera und ich glauben, daß die Welt nicht so ist, wie Feder sie haben wollte. In unserem Land stimmt etwas nicht.«
Ich war verblüfft. »Warum glaubst du, daß etwas nicht stimmt?«
»Vielleicht erinnerst du dich an eine alte Geschichte. Als Mera und ich noch ganz klein waren, hörten wir einmal einem Betrunkenen in einer Schenke zu. Er kam aus einem fernen Land. Er war noch nie in Handred gewesen. Er stellte eine Frage. Weißt du sie noch?«