Die RE und die bionischen Psyborgs arbeiteten zusammen. Erstere nutzten die Möglichkeiten der Morfokinetik; letztere verfügten über ein menschliches Gehirn in einem beliebig austauschbaren Kunstkörper. Das kostenträchtige Unterfangen, die Umwelt dem Menschen anzupassen, wurde aufgegeben, nachdem die ersten Psyborgs der Klasse ›Proteus‹ aus den clongenetischen Laboratorien kamen. Von jenem Augenblick an hatte die menschliche Morphologie den von der Umwelt und der jeweiligen Arbeit geforderten Bedingungen zu entsprechen.
Obgleich inzwischen die Entwicklung der Proteus-Klasse die fünfte Generation erreicht hatte, empfand Seymour nach wie vor ein gewisses Unbehagen, wenn er mit jenen Geschöpfen zu tun hatte, die weder von der Gestalt noch vom inneren Wesen her vollkommen menschlich waren. Und diese diffuse Beunruhigung bezog sich nicht nur auf die Bioniker, sondern auch auf viele andere Aspekte seiner Berufswelt. Natürlich ließ er sich das nicht anmerken, aber er konnte das Gefühl, irgendwie anders zu sein als die anderen Arbeiter an Bord der Raumstation, nicht ganz verdrängen.
Siebenundzwanzig Stunden und einundfünfzig Minuten nach dem Anlegen wurde der letzte Erzcontainer aus den Frachträumen des Transporters entladen, und auf dem einen Monitor blieb die eingeblendete Chronometeranzeige der verstrichenen Zeit stehen. Jetzt begann die anteilige Aufrechnung der entstandenen Kosten, was sicher zu den üblichen Kontroversen bezüglich der jeweiligen Interpretation des Chartervertrages führte – das Hin- und Herschieben der Verantwortlichkeit für die unvermeidlichen Schäden …
Die RE kehrten in ihre Nischen zurück. Und die Bioniker suchten ihre Unterkünfte auf.
Das Schloß erkannte Paulus und öffnete die Tür der Zimmerflucht, deren Wände aus von der Küste stammendem gemeißeltem Felsgestein bestanden. Er trat ein und bewegte sich sehr behutsam und möglichst geräuschlos, um der Aufmerksamkeit der allgegenwärtigen elektronischen Spione zu entgehen: Er kannte sich in diesen Räumen gut aus.
Als er das Lärmen der üblichen Musik vernahm, vergaß er alle Vorsicht und trat entschlossen auf die Schiebfläche zu. Als er sich ihr näherte, registrierten die Flüssigkristalle seine Körpertemperatur, und die Fläche begann in einer chromatischen Aberration zu erzittern. Pau ließ sie zur Seite gleiten und betrat das Zimmer.
Er wußte, was ihn erwartete, und so war er angesichts der vielen Menschen, die sich in dem Raum zusammendrängten, nicht überrascht. Er sah sich suchend um, bis er Dream entdeckte. Sie lag inmitten eines Gewirrs aus Kissen, und mit langsamen und mechanischen Bewegungen verlagerte sie dann und wann das Gewicht von der einen auf die andere Seite. Pau näherte sich der jungen Frau, ohne dabei auf die Leute zu achten, die sich zwischen ihm und Dream befanden. In dem von den Wänden her dröhnenden Lärm waren nur einzelne Wortfetzen und gelegentliches Lachen zu hören.
Er sprach sie an, aber Dream drehte sich auch weiterhin wortlos von der einen Seite auf die andere. Sie lächelte. Pau berührte sie an der Schulter und nannte erneut ihren Namen, und sie schlug die Augen auf und sah ihn an. Ihr Lächeln war unerschütterlich.
»Dream, ich bin’s, Pau.«
Sie drehte sich auf die andere Seite und schloß die Augen.
Paulus Seymour suchte den Körper der jungen Frau ab, bis er zwischen den Falten der Schärpe die kleine Metallplatte fand. Er betätigte den Schalter darauf, und die Gestalten der anderen im Raum befindlichen Personen lösten sich in farbigen Lichtblitzen auf und verschwanden: Der Lärm von den Wänden verstummte.
Dream hielt die Augen noch einige Sekunden lang geschlossen und schaukelte sanft hin und her. Dann verharrte sie und sah ihn an.
»Pau!« rief sie. »Was für eine nette Überraschung! Ich dachte, du wärst oben im Kreisel.« Sie setzte sich auf und schmiegte sich kurz an ihn. »Komm, leg dich neben mich. Ein bißchen Liebe?«
Pau schüttelte den Kopf. »Vielleicht später. Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du mich nach Europa begleiten möchtest, nach Doge City. Na?«
Dream lächelte und ließ sich auf die Kissen zurücksinken. Ihre Hand tastete nach der zwischen den Falten ihres Gewandes verborgenen Platte. Pau griff behutsam nach ihrem Arm. »Kommst du mit mir?« fragte er erneut. »Wir können jetzt gleich aufbrechen. Es heißt, es sei eine eigentümliche Stadt …«
»Dodge City liegt nicht in Europa«, erwiderte Dream mit geschlossenen Augen. »Ich … ich habe die Stadt schon einmal besucht … Ist gar nicht so seltsam … Eine der bedeutendsten Städte der Welt, berühmt für seine Geschichte … Und es gibt dort die besten Hamburger.«
»Doge City, Dream, nicht Dodge City. Eine Stadt im Nordosten Italiens, in Europa. Weißt du, ich muß mit dem Buch fertigwerden, das von der Geschichte der Nautik handelt, und mir fehlt noch Material, das ich nur dort finden kann.« Pau zog die junge Frau sanft in die Höhe, und Dreams Körper erschlaffte. Sie ließ den Kopf nach hinten hängen und lächelte.
»Europa interessiert mich nicht.« Sie gab sich kindisch und schmollte. »Warum fliegst du nicht nach Kapstadt? Von dort aus werden die Schiffe gestartet …«
»Nein, die meine ich nicht, Dream. Vorher gab es Schiffe, die die Meere befuhren, und Doge City war ein großer Flottenstützpunkt, vielleicht der wichtigste überhaupt.«
Dream biß ihm ins Ohrläppchen. »Ach, Pau, von Wasser halte ich nicht viel, das weißt du doch. Komm bald zurück.«
Seymour umfaßte ihren Kopf mit beiden Händen und zwang sie dazu, ihn anzusehen. Dream hatte nach wie vor die Augen geschlossen und stülpte lächelnd die Lippen vor. »Bringst du mir ein Souvenir aus Dodge City mit?«
Pau blickte noch einige Sekunden lang in das hübsche Gesicht der jungen Frau und ließ sie dann auf die Kissen zurücksinken. Als er die Schiebetür hinter sich schloß, dröhnte aus den Wänden bereits wieder laute Musik, und auch das Zimmer war so überfüllt wie zuvor.
Paulus Seymour wünschte sich, jenen angenehmen Gleichmut, den man für gewöhnlich nach einer langen Zeit der Ruhe und Entspannung empfindet, noch einige Augenblicke festhalten zu können.
Es war still im Raum, aber Pau hatte noch immer die sonderbaren Geräusche in den Ohren, die ihn während des Aufenthaltes in der seltsamen Stadt auf Schritt und Tritt begleitet hatten. Laute, die er noch nie zuvor vernommen hatte – nicht nur im Raumhafen, sondern auch während seines Streifzugs über die Erde. Konnte man sie möglicherweise als lautlose Geräusche bezeichnen? Vielleicht. Denn es hatte sich dabei nicht um von der Luft übertragene Vibrationen gehandelt, sondern eine Art dröhnendes Knistern, das seinen Ursprung in ihm selbst gehabt zu haben schien – akustische Zeugnisse eines ihm unbekannten Lebens, das dennoch ein fest verwurzelter Bestandteil seiner Wesensstruktur war. Pau hätte zu gerne darauf reagiert, aber dazu war er nicht in der Lage gewesen.
Er berührte die leuchtende Sensorfläche und aktivierte damit das automatische Weckprogramm. Die Jalousien glitten langsam nach oben und enthüllten eine helle gekuppelte Fensteröffnung. Pau schwang die Beine aus dem Bett, und seine Füße berührten den Boden, eine weiche Fläche in verschiedenen grünen und ockergelben Farbtönungen. Ein eigentümlicher Geruch breitete sich im Zimmer aus – Pau glaubte ihn als den des Grases ganz früh am Morgen identifizieren zu können –, und erfüllt war der Duft von der Feuchtigkeit der Nacht. Ein immer lauter werdendes Rascheln ging von den Grasbüscheln aus, insbesondere von den Stellen, wo das Grün üppiger wuchs, am Fußende des Bettes und in der Ecke neben der Tür. Frische Luft wehte durch das Zimmer, und Pau fröstelte.