Imaginäre hohe Bäume neigten sich im Wind sanft hin und her, und das sanfte Rascheln der Blätter hörte sich an wie das Plätschern von Wasser, das über glattgeschliffene und mit farbigen Mineralienadern durchzogene Steine hinwegplätscherte.
Es waren eigenartige Bilder, die Paus Bewußtsein entwickelte, ohne daß in seinem Gedächtnis eine entsprechende Bezugsgrundlage gespeichert war. Aber vielleicht, so überlegte er, offenbarte sich in diesen Vorstellungen die genetisch in ihm verankerte Erfahrungswelt seiner Vorfahren …
Ein plötzliches Geräusch, und ein kleiner Vogel ließ sich von einem hohen Zweig fallen und flog zwitschernd umher. Pau hob den Kopf, um das Flattern der Flügel zu beobachten, aber sein Blick fiel nur auf die Zimmerdecke, deren himmelblaue Tönung mit dem durch das Fenster leuchtenden Weiß verschmolz.
Es war eine echte Überraschung gewesen, in der wunderlichen Stadt im Nordosten Italiens ein Hotel zu finden, das eine Ausstattung mit Sensiapartements aufweisen konnte, und Pau hatte sich ohne zu zögern für ›Leben im Wald‹ entschieden und andere Unterkünfte, die intensivere Erlebnisse versprachen – zum Beispiel ›Insel im Pazifik‹, ›Schwarzes Afrika‹ und ›Tausendundeine Nacht‹ –, nicht einmal in die engere Wahl gezogen.
Die Wecksequenz des Programms ging nun allmählich ihrem Ende entgegen. Aber die Automatik stabilisierte eine Empfindungskulisse, die sich zusammensetzte aus einer leichten Brise, die den Geruch von Moosen und Farnen mit sich trug, dem Brummen von Insekten, dem Rascheln von Blättern und dem leisen Gurgeln eines Baches, dessen Wasser irgendwo über Kiesel plätscherten.
Pau öffnete das Fenster und setzte sich auf den Balkon. Sein Blick fiel auf den Prachtbau der Santa Maria della Salute; links sah er das glitzernde Wasser des Canale Grande und rechts das des Canale della Giudecca. Etwas weiter entfernt machte er die Neue Prokuratie sowie die Basilika und den Dogenpalast des Markusplatzes aus. So bot sich Paulus Seymour an jenem Morgen des ersten September die Stadt dar, die man in Doge City (womit die Stadt der Dogen gemeint war) umbenannt hatte – nach der Vereinnahmung Europas durch die Vereinigten Staaten und der Gründung der USAE.
Das einstige Venedig präsentierte sich Pau mit jener Art von Magie, die der Stadt seit Jahrtausenden zu eigen war und Farben und Konturen miteinander verschwimmen ließ. Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen, und das Licht hob die von der Zeit und dem Menschen verursachten Verheerungen weniger deutlich hervor. Erste dünne Nebelschwaden umhüllten die großen Palazzi und verbargen das Ausmaß, in dem die Mauern bereits verwittert waren.
Während der Reise hatte sich Seymour über die Stadt informiert, und jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als den Beschreibungen Glauben zu schenken, die er zuvor für maßlos übertrieben gehalten hatte.
Einige Möwen schwebten mit weißen und ausgebreiteten Schwingen über die Kanäle, tauchten ganz plötzlich ins Wasser, schossen unmittelbar darauf wieder daraus hervor und setzten den Flug fort. Ihr Krächzen hallte über die Dächer. Einer der Vögel kam in einem weiten Bogen auf das Kuppelfenster zu. Die Möwe stieß einen heiseren Schrei aus, schlug rasch mit den Flügeln, stieg auf und entfernte sich in einer eleganten Kurve, um sich kurz darauf zwischen den weißen Marmorwölbungen der Basilica della Salute zu verlieren.
Es herrschte eine friedliche und gleichzeitig erregende Atmosphäre, die Seymour aus seinem Zimmer rief. Er spürte, daß die Stadt ihn zu sich einlud, daß eine überraschende und faszinierende Verlockung von ihr ausging.
Und als er sich in dem Gewühl befand, das die zugänglichen Bereiche der Stadt heimsuchte und auf diese Weise einen unmittelbaren Eindruck vom standardisierten Massentourismus gewann, begann er sich irgendwie elend und verloren zu fühlen.
Von unten aus betrachtet sah die Rialtobrücke aus wie ein kleiner Hügel, auf dem es von Menschen nur so wimmelte. Gegen seinen Willen mußte Seymour dem Schieben und Zerren der verschiedenen Gruppen nachgeben, die in dem Gedränge kaum auseinanderzuhalten waren. Die Brücke quoll regelrecht über, so voll war sie mit nacktem und vor Schweiß glänzendem Menschenfleisch, mit roter und sich abpellender Haut. Überall plapperten Stimmen, und Hunderte von Mündern verschlangen hastig geschmackloses Vollpension-und-alles-inklusive-Frühstück.
Von dem Wasser des Canale Grande, über die sich die Brücke spannte, erklang das Platschen und Klatschen und Summen und Brummen der automatischen Gondeln, die sich über eine Länge von einem Kilometer bis fast in die Mitte des Kanals hin aneinanderreihten und auf Touristenfracht warteten.
Hinter der Kurve ließ sich die große Stahlbarriere erahnen, die den Kanal in der Höhe der Ca’ d’Oro[4] abriegelte. Jenseits dieses Damms aus Metall stellte der Kanal eine gewaltige faulige und stinkende Wunde dar, die die Stadt bis hin zum alten Bahnhof verunstaltete. Dort befand sich eine zweite Barriere, eine noch größere als die erste, die sich fast mit einer Talsperre vergleichen ließ – und die schirmte die Fehler ab, die man nach der Katastrophe von Porto Marghera gemacht hatte.
Auf einer großen Leuchttafel schimmerte eine Warnung, abwechselnd in den fünf Hauptsprachen, die neben der offiziellen Staatssprache der USAE zugelassen waren: GEFÄHRLICHE ZONE. RESTSUBSTANZEN AUS RADIOAKTIVER UND CHEMISCHER VERSEUCHUNG.
Trotzdem war jener Bereich als der ›Durchgang‹ bekannt. Diese Bezeichnung gründete sich auf die Tatsache, daß man durch die weite Fläche, die einst eine Lagune gewesen war, die archäologischen Reste der petrochemischen und nuklearen Industrie von Porto Marghera erreichen konnte. Infolge der Maßnahmen, die ein weiteres Ausbreiten der von radioaktiver Strahlung und chemischer Vergiftung heimgesuchten Zone hatten verhindern sollen, war die betreffende Region zu einem Niemandsland geworden – dem bevorzugten Aufenthaltsort der Gescheiterten, die aus aller Welt hierher gekommen waren. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Hauptattraktion von Doge City – wenn auch die einzige, mit der keine Werbung gemacht wurde.
Jeden Tag von morgens bis abends schwebten Hunderte von Helikiosken an den Uferbereichen entlang und verkauften angeblich aus der verseuchten Zone stammende Souvenirs. Einst hatte man auf diese Weise noch echte Raritäten erstehen können, zum Beispiel geschmolzene und dann zu bizarren Formationen erstarrte Metallfragmente, Splitter von menschlichen Knochen, manchmal sogar ganze Unterarm- oder Oberschenkelknochen. Doch wenn sich die Helikioske jetzt des morgens vom Himmel herabsenkten, waren sie gefüllt mit Reproduktionen aus Kunststoff, und neunzig Prozent der zum Verkauf angebotenen Stücke trugen die Aufschrift ›Made on Moon‹.
Seymour folgte weiter dem Verlauf des Weges und schritt tiefer in die Stadt hinein. Er wollte erst dann mit den Nachforschungen für sein Buch beginnen, wenn er sich einen Eindruck von der Stadt verschafft hatte.
Und während er durch die manchmal unglaublich schmalen Gassen des Labyrinths aus Straßen, Wegen, Pfaden, Brücken und Treppen wandelte, entstand in ihm eine sonderbare Neugier, die sich bald darauf in nervöse Unruhe und ein unbestimmtes Verlangen verwandelte. Es war fast, als stelle sich ihm die alte Stadt als eine Frau dar, die zwar verschlissene Kleidung trug, aber doch die Vorstellung weckte, darunter befände sich ein prächtiger und williger Körper.
Spät am Abend durchwanderte er einen verlassenen Bereich, und seine Schritte hallten laut von den steinernen Wänden wider. Ein Schild verlieh diesem Ort den Namen S. Trovaso. Es war ein kleiner Platz, der auf drei Seiten von einem Kanal mit halbhoher Ufermauer gesäumt wurde. Auf dieser Mauer saß ein alter dicklicher Mann, der in ein helles und zerknittertes Hemd und eine dunkle Hose gekleidet war. Der Kopf war eingehüllt in eine Wolke aus zerzaustem Haar. Die Füße steckten in Sandalen, die aus echtem Leder zu sein schienen. Er sah Seymour aus kleinen und ungewöhnlich lebhaften Augen an, und sein Blick vermittelte sofort Sympathie.