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Auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite konnte man hinter einem halb zugezogenen gelben Vorhang eine weitere Tür erkennen.

»Die Streitfrage, die Sie eben ansprachen, stellt in gewisser Weise auch heute noch ein interessantes Problem des Seewesens dar«, sagte der Kustos und schritt dabei auf den gelben Vorhang zu. »Ich erinnere mich genau daran. Mein Vater erzählte mir bereits davon, als ich noch ganz klein war.« Er schob das Tuch beiseite, und Seymours Blick fiel auf Wände, an denen lange Regale angebracht waren. Sie bogen sich unter dem Gewicht der mit Riemen verschnürten Mappen, die nachgerade zum Bersten gefüllt waren mit Schriftrollen, Büchern, Kladden, Heftern und anderen gesammelten Dokumenten.

Der Vorhang fiel raschelnd zurück, und der Kustos verschwand dahinter. Als er weitersprach, klang seine Stimme gedämpft, als sei er geradewegs in die gewaltige Menge an Papier hineingekrochen.

»Jetzt suchen wir die Nummer, und dann wissen wir, wo sich die entsprechenden Unterlagen befinden.« Der Vorhang bewegte sich einige Male, während der Kustos in den Regalen hantierte. Seymour fragte sich, wie man in all den überquellenden Mappen und Ordnern irgend etwas Bestimmtes finden konnte.

»Sie müssen ein geradezu bewundernswertes Gedächtnis haben«, sagte er. »Sicher kommt nur selten jemand, um jene Dokumente dort zu Rate zu ziehen, und wenn Sie wissen, wo sich was befindet …«

Der Kopf des Kustos’ kam kurz hinter dem Vorhang zum Vorschein. »Es kommen wesentlich mehr Besucher, als Sie vielleicht glauben«, erwiderte er und musterte Seymour. »Der letzte klopfte erst vor rund einem Monat bei mir an.«

Seymour enthielt sich eines entsprechenden Kommentars. Er wartete eine Weile und meinte dann: »Mit einem computerisierten Verwaltungssystem, das auf der Erfassung durch Mikrofilm basiert, wäre es möglicherweise einfacher …«

Der Kustos unterbrach ihn mit einem spöttischen Lachen. »Mikrofilm! Wer hätte denn die Zeit dazu, all diese Dokumente hier abzulichten? Und anschließend würde es noch einmal so lange dauern, um allen Unterlagen einen Code zuzuweisen und die Kennungen im Computer abzuspeichern. Mit meinem System hingegen … Sehen Sie?« Er zog einen Hefter aus einem der großen Stapel hinter dem Vorhang, öffnete ihn, trat an den Tisch, ging mit dem Zeigefinger eine vier Seiten lange Auflistung von Zahlenkolonnen durch und hatte ganz offensichtlich keine Schwierigkeiten, die richtige Codierung zu finden. »Hier haben wir sie schon … VII-21-3/L-76 – wußte ich es doch.«

Seymour sah ihn verwirrt an. »Und das bezeichnet die Unterlagen, um die ich Sie gebeten habe?«

Der Kustos wandte sich zu ihm um und hob erstaunt die Augenbrauen. »Worum denn sonst? Sie haben doch nach Informationen über die Kontroverse um die ›Santissima Madre‹ gefragt, die von Konstantinopel kommend am neunten Juli des Jahres 1576 in Venedig einlief, nicht wahr?«

Seymour nickte andeutungsweise.

»Eben. Jetzt brauchen Sie sich nur noch an den hier angegebenen Ablageort zu begeben, und dort finden Sie das Gewünschte. Ich kann Sie leider nicht begleiten, denn der Aufzug ist ausgefallen, und das Treppensteigen fällt mir schwer.«

Er notierte die Kennummer auf einem Zettel, den er Seymour reichte. »Hier. Siebter Stock, einundzwanzigstes Zimmer, drittes Regal auf der linken Seite, Mappe Nummer sechsundsiebzig. Ich warte hier auf Sie.«

Seymour wollte sich gerade auf den Weg machen, als ihm noch etwas einfiel. »Seit wieviel Jahren machen Sie diese Arbeit schon?«

»Ich bin in diesem Gebäude geboren. Als die Wehen einsetzten, begab sich meine Mutter in das im sechsten Stock gelegene Studierzimmer. Mein Vater lehrte mich den Umgang mit all den Dokumenten hier, und nachdem er angerufen wurde, trat ich seine Nachfolge an. Und ich muß sagen, daß wir hier gute Arbeit geleistet haben – alle Mappen befinden sich dort, wo sie hingehören; nie ging ein Dokument verloren. Sie mag das verblüffen, da Sie daran gewöhnt sind, solche Verwaltungsaufgaben von Computern durchführen zu lassen. Aber meine Art von Organisation befriedigt mich weitaus mehr.«

»Sie meinten eben, Ihr Vater sei angerufen worden. Auch Umàn sprach von einem Anruf, auf den er wartet.«

Der Kustos blinzelte. »Was hat Umàn Ihnen gesagt?«

Seymour hob die Schultern. »Nichts weiter. Ich fragte ihn, worum es dabei ginge, aber er gab mir keine Antwort darauf. Können Sie mir die Sache erklären?«

Der Kustos sah ihn nachdenklich an. »Sind Sie nur wegen Ihrer Nachforschungen hierher gekommen, oder … oder gibt es noch einen anderen Grund, der Sie in diese Stadt brachte?«

Seymour antwortete nicht sofort. »Meine Absicht war … Nun, ich arbeite an Bord der Man’s Pride, einer amerikanischen Raumstation, und bisher habe ich nicht einmal im Traum daran gedacht, daß eine solche Welt existieren könnte …« Bei den letzten Worten vollführte er eine umfassende Geste.

Der Kustos lächelte. »Tja, so ist es fast immer – ein jäher und tiefer Schock. Aber wenn man es schafft, ihn zu überwinden und zu verstehen, was hinter all dem hier steckt …«

»Sie haben meine Frage von vorhin noch nicht beantwortet«, erinnerte ihn Seymour.

»Darüber können wir später noch sprechen. Holen Sie sich erst einmal Ihre Unterlagen. Die Treppe finden Sie dort rechts.« Daraufhin verschwand der Kustos wieder hinter dem gelben Vorhang, um den Hefter mit der Kennungsliste an ihren Platz zurückzulegen.

Seymour stieg die Treppe hoch und schritt tiefer hinein in den steinernen Leib der Marciana, einen gewaltigen und massigen Körper, der aus langen und steilen Treppen, dunklen Korridoren und weiten Hallen voller Schatten und Schemen bestand.

In jedem Stockwerk erwartete ihn ein Saal, der so groß war, daß die Konturen der Wände sich irgendwo im Halbdunkel verloren. In regelmäßigen Abständen zeigten sich geschlossene Türen mit emaillierten Schildern – oder einfach nur vergilbten Zetteln, die mit Klebestreifen daran befestigt waren. Die Wandbereiche zwischen den Türen wurden vollständig von riesenhaften Holzschränken oder bis zur Decke emporreichenden Regalgestellen aus Metall beansprucht. Auf einigen Schränken lagen zudem noch Truhen und Kisten oder sogar andere quergelegte Schränke.

In der Mitte einer jeden Saalwand befand sich eine große Bogentür mit verzierter Marmoreinfassung und einem aus dem gleichen Material bestehenden Abakus, und durch diese Tore gelangte man in die verschiedenen Treppenhäuser.

Für die Beleuchtung sorgten Glühbirnen in schmiedeeisernen Laternen, die an langen Ketten von der Decke herabhingen. Der gelbliche Glanz erhellte jedoch nur einen Bereich, der nicht mehr als einige wenige Meter durchmaß, und der Rest eines jeden Saals lag in grauschwarzem Schatten.

Seymour wurde neugierig und ging langsam an den geschlossenen Türen vorbei. Nach und nach, während er Stockwerk um Stockwerk höher gelangte, deuteten die jeweiligen Aufschriften auf immer neue Fachgebiete hin. In der ersten Etage las er Schilder mit den Bezeichnungen ›Selbstjustiz‹, ›Betrug‹, ›Beweismittelarchiv‹, ›Konkurse‹, ›Havarien‹, ›Sicherstellungsmaßnahmen‹ und anderen Hinweisen, die sich alle auf die Legislative bezogen.

In der nächsthöheren Etage nannten die Schilder nur Namen, und Seymour las die von Sokrates, Hegel/Nietzsche, Gioberti, Platon und dann auch die von Marx, Feuerbach, Comte und Poincaré, die entweder einzeln oder in Gruppen aufgeführt waren.

Es folgten einige schwere Stahlgestelle, die an einem riesenhaften Schrank lehnten, in dessen Frontfläche eine breite Leiste fehlte. Die Öffnung wirkte heller als das angrenzende Holz und sah aus wie eine eitrige Wunde, da sich an den Rändern gelblicher Staub an Dutzenden von kleinen Spänen angesammelt hatte.

Seymour trat näher heran. Ganze Dokumentenbündel, die nicht mehr von der fehlenden Leiste zurückgehalten wurden, quollen regelrecht hervor. Als er in die Öffnung spähte, boten sich ihm die ledernen Rücken der vielen Ordner und Mappen wie die aufgeblähten Chitinleiber monströser Insekten dar, die Hunderte von Schriftrollen, uralten Karten und Verträgen und anderen Unterlagen verschlungen hatten und nur darauf warteten, mit weiteren historischen Leckerbissen gefüttert zu werden.