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In der vorderen Wand setzte sich die Reihe der geschlossenen Türen fort, und Paulus las Schilder mit den Aufschriften Aristoteles, Kant, Kierkegaard, Croce, Engels – und etwas weiter Fichte, Rosmini, Gentile, Galluppi, Bradley, Spencer und Russell.

Seymour stieg ins dritte, vierte und dann ins fünfte Stockwerk empor, und hier ging er an den Türen vorbei, die Giotto und Dante gewidmet waren, dem Impressionismus und dem Expressionismus, da Vinci und Einstein, und als er an der mit dem Schild ›Studierzimmer‹ gekennzeichneten Tür vorbeischritt, dachte er: Dort drin wurde der Kustos geboren.

Weitere Treppen ging es empor, in den sechsten und schließlich siebten Stock. Am Querbalken des Eingangs war ein Blatt befestigt, auf dem der Löwe des Sankt Markus abgebildet war, und darunter las Seymour die Worte: Pax tibi Marce evangelista meus. Und darunter wiederum befand sich ein handschriftlicher Zusatz: ›Die Republik Venedig.‹

In diesem Saal waren die einzelnen Türen nur mit Nummern gekennzeichnet. Paulus trat in das mit der Zahl 21 markierte Zimmer. Zu seiner großen Überraschung erhellte strahlendes Sonnenlicht den Raum. Es glänzte durch ein in der einen Wand in Bodenhöhe eingelassenes halbrundes Fenster herein und spiegelte sich auf dem Metall der vielen Regale wider, die schwere Aktenlasten zu tragen hatten.

Es bereitete ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten, die gesuchten Unterlagen zu finden, und es dauerte nur einige wenige Minuten, sie zu fotografieren und sich auf diese Weise Kopien für den persönlichen Gebrauch zu machen.

Als er in den alten Dokumenten blätterte, löste sich ganz feiner Staub von ihnen, die das hereinfallende Sonnenlicht wie Myriaden winziger Kristalle brachen und das ganze Zimmer mit einem goldenen Gleißen erfüllten. Die Seymour umgebende Luft verwandelte sich dadurch in so etwas wie einen historischen Botschafter. Die Präsenz der Stadt und all dessen, was sie darstellte, manifestierte sich in dem gelben Leuchten, und einen Teil davon nahm Paulus mit jedem Atemzug in sich auf. Als er das Zimmer verließ, fühlte er sich wie benommen.

Er kehrte in das Korridor-Büro zurück und stellte dort fest, daß der Kustos den Fernseher eingeschaltet hatte. Seymour dankte ihm für die Hilfe und wiederholte noch einmal seine Frage. Der Kustos zögerte erst und erwiderte dann: »Früher oder später werden wir alle angerufen. Sie sicher auch.«

»Wollen Sie damit sagen, die Anrufe bedeuten den Tod?«

»Mehr oder weniger.«

»Aber was hat denn das Telefon damit zu tun?«

Der Kustos seufzte. »Ach, es sind nur noch wenige, die sich um diese Stadt kümmern, und es erfolgen immer mehr Anrufe, weil es sehr schwierig ist, Nachfolger zu finden. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwierig. Viele behaupten zunächst, sie würden gern bleiben, doch später gehen sie. Manche von ihnen kehren zurück, und von denen wissen wir dann, daß sie für immer bleiben. Bis zum jeweiligen Anruf.«

Seymour merkte, daß der Kustos mit diesen Bemerkungen seiner Frage auswich.

Für den Rest des Tages vertraute Paulus auf seinen Instinkt und mied die Orte, an denen sich die größten Touristenmassen zusammendrängten. Und es war schon spät am Abend, als er begriff, daß er nach S. Trovaso zurückkehren mußte.

Er erinnerte sich nicht mehr an den Weg, und so wanderte er durch dunkle und schmale Gassen, die nur dann und wann von einer Lampe erhellt wurden. Aus den Fenstern der Häuser fiel nicht der geringste Lichtschein, und Seymour vernahm weder die Stimmen von Menschen noch die charakteristischen Geräusche eines eingeschalteten Holosehers. Die Straßen waren völlig leer, und nirgends entdeckte er ein Geschäft oder ein geöffnetes Lokal. Diese Stadt lebte nur in den Bereichen, die von den Touristen aufgesucht wurden. In den restlichen Vierteln lebten nur wenige Personen, wie etwa Umàn und der Kustos der Marciana.

Kurz darauf jedoch sah Paulus eine Gestalt, die an der Ufermauer eines Kanals lehnte. Als er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, stellte er fest, daß es sich um ein Mädchen handelte. Sie blickte auf das dunkle Wasser. Als Seymour auf sie zuschritt, drehte sie sich um und lächelte ihn an. Sie war sehr jung, und er nahm zunächst an, eine Touristin vor sich zu sehen, die sich aufgrund der eher knappen Beschreibungen des offiziellen Reiseführers in diesen abgelegenen Teil der Stadt verirrt hatte.

»Verlaufen?« fragte Seymour.

Die junge Frau lächelte erneut und antwortete mit einem starken deutschen Akzent: »Nein, ich wohne hier. Ich kontrolliere gerade den Austausch.«

Seymour wußte nicht, was sie meinte. »Was für einen Austausch?«

»Den des Wassers«, erklärte sie. »In einigen Minuten wird dieser Kanal hier trockengelegt, um den Grund zu reinigen und das Wasser auszutauschen. Für diese Arbeit bin ich zuständig.« Sie musterte Seymour eingehender. »Du bist Tourist, nicht wahr? Was führt dich hierher?«

Seymour stützte die Arme auf die Ufermauer und blickte ins schwarze Wasser. »Ich bin wegen einiger Nachforschungen hier … Gehörst du zu denjenigen, die sich um die Stadt kümmern? Ich habe schon zwei von ihnen kennengelernt …«

»Zum Beispiel Umàn?«

Seymour sah das Mädchen an. »Ja. Ihn und den Kustos der Marciana. Kennst du sie ebenfalls?«

»Ach, wir sind hier nur wenige, und deshalb ist es unmöglich, nicht miteinander bekannt zu sein. Manchmal treffen wir uns alle, aber das kommt nicht sehr oft vor … Es gibt hier zu viel für uns zu tun. Sieh nur. Jetzt ist es soweit …«

In der Stille war ein Geräusch zu vernehmen, das wie ein tiefes Seufzen klang, so als gähne ganz Venedig. Aus der Tiefe, gewissermaßen aus dem Keller der Stadt, ertönte der dumpfe Klang von sich in Bewegung setzender Maschinerie, gefolgt von einem gedämpften Murmeln, leisem Knistern und Rascheln, einem Gurgeln und Rauschen. Seymour konnte deutlich sehen, wie sich der Wasserspiegel im Kanal absenkte, und nach einigen wenigen Minuten wurde der Grund sichtbar. Er bestand aus feucht glänzendem Kunststoff, auf dem sich Abfall aller Art zeigte. Sogar einige ertrunkene Ratten lagen zwischen den Konservenbüchsen und anderen Abfällen.

Begleitet von einem ungleichmäßigen, fast stotternden Summen schob sich eine Stahlplatte aus dem Dunkel der Nacht hervor und glitt durch den nun leeren Kanal. Auf beiden Seiten ragte sie bis ganz dicht an die Ufermauern heran. Wie ein Hobeleisen von der Größe eines Bulldozers sah sie aus, und Seymour beobachtete, wie sie den ganzen Müll, der sich auf dem Grund angesammelt hatte, vor sich herschob. Nach einer Weile wurde sie wieder von der Finsternis verschluckt, aber das Brummen und Knirschen war noch eine Weile zu vernehmen.

»Vor langer Zeit sorgte die Lagune selbst für die Reinigung der Kanäle«, sagte die junge Frau mit gedämpfter Stimme. »Mit den gegensätzlichen Strömungen von Ebbe und Flut.«

Erneut regte sich der unsichtbare Riese unter der Stadt, und eine Wasserwoge gischtete heran, spritzte an den Ufermauern in die Höhe und bildete gurgelnde Strudel. Dann wurde die Zufuhr gleichmäßiger, und es dauerte gar nicht lange, bis der Kanal wieder gefüllt war.

Die junge Frau hakte einen Punkt auf einer Liste ab. »Erledigt. Jetzt ist der Rio dei Miracoli dran. Willst du mitkommen?«

Seymour war versucht einzuwilligen, schüttelte dann aber den Kopf. »Vielleicht haben wir noch einmal Gelegenheit, uns länger zu unterhalten. Jetzt muß ich mich auf den Weg nach S. Trovaso machen.«

»Ist nicht weit. Geh durch die Gasse und überquer drüben die Brücke. Rechts findest du dann den Platz. Vielleicht begegnest du Umàn. Er hält sich öfters dort auf.«