»Ich warte nur noch auf die letzte Gruppe, bevor ich heimgehe«, erwiderte der Kastanienröster, der die Hände tief in die Taschen der dicken Jacke geschoben hatte. »Möchtest du Kastanien?«
»Komm doch zu mir, wenn du hier fertig bist, und bring einige mit. Dann machen wir eine Flasche vom guten auf und lassen es uns wohl sein.«
»Gern, Pau. Bis später!«
Seymour schritt auf die Tür zu, und mit den Fingern tastete er nach dem Schloß; auf seine Augen konnte er sich inzwischen nicht mehr ganz verlassen.
Er begann die Treppe emporzusteigen, und ab und zu mußte er stehenbleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Er durchquerte jenen Saal, in dem so viele von Tüchern bedeckte Möbel standen – das ›Titanenzimmer‹ nannte er diesen Raum seit dem nun schon viele Jahre zurückliegenden Tag, an dem Umàn ihm die Halle gezeigt hatte. In diesem Raum hatte er auch zum erstenmal das Telefon gesehen. Paulus fragte sich, wann es wohl für ihn klingeln mochte, und er war sicher, daß der Anruf nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Inzwischen waren auch schon Dotòr, der Astronom, Bubàna und Umàn angerufen worden.
Ähnliche Telefone gab es auch in anderen Städten Europas, in denen Männer und Frauen sich ganz der Aufgabe widmeten, die Errungenschaften einer uralten Kultur zu erhalten. Niemand wußte genau, wie es geschah, aber nachdem jemand einen Anruf erhalten hatte, wurde der Betreffende an einen Ort bestellt, fand Zugang zu einer anderen Existenzebene, wo sich all die Gedanken und Ideale konkret manifestieren konnten, die den Menschen hatten erwachsen werden lassen – eine Welt, in der nicht nur die Utopie eines Thomas Morus Wirklichkeit geworden war, sondern auch der Sonnenstaat Tommaso Campanellas, in der die Anschauungen der großen Philosophen ein gleichrangiges Miteinander eingegangen waren, in der das Greifbare neben dem Metaphysischen existierte, in der kein Gedanke mit dem Hindernis der Alltäglichkeit konfrontiert wurde.
Ein gewaltiges Kulturvermächtnis durfte nicht dem Konsumzwang als Opfer dargebracht oder von einem elektronischen Totalitarismus vereinnahmt werden; und es mußte verhindert werden, daß neue Ideen von der Arroganz der Unwissenden verschmäht und so vom Strom der Zeit davongespült wurden.
Seymour betrat das Zimmer, dessen Wände aus Glas bestanden. Seit vielen Jahren schon wohnte er dort. Er öffnete die Klappe des Ofens, und mit einem kleinen Schürhaken stocherte er in der Glut. Er legte einige Holzspäne darauf, und als das Feuer wieder entfacht war, schob er dickere Scheite nach und schloß die Klappe.
Er holte eine Flasche und stellte sie auf den Tisch. Dann schob er den Stuhl an die Glaswand heran, setzte sich, zündete sich die Pfeife an und betrachtete den Himmel durch das kristallene Mosaik.
Es mochte noch ungefähr eine halbe Stunde dauern, und wenn Carlòn rechtzeitig mit den Kastanien kam, so überlegte Paulus, konnten sie die Raumstation vielleicht gemeinsam beobachten. In einer solchen Nacht mußte sie deutlich sichtbar sein: Der Nebel reichte nur gerade bis zum ersten Stockwerk des Gebäudes, und der Himmel war klar und schwarz. Die Man’s Pride würde wie ein besonders heller Stern ihre Bahn ziehen.
Seymour nickte ein. Carlòn weckte ihn später, und er setzte sich mit ihm an den Tisch, um die Kastanien zu essen und ein Gläschen vom guten Wein zu trinken.
Die Man’s Pride war längst wieder hinterm Horizont verschwunden.
Schweigend schälten die beiden alten Männer die Kastanien ab. Paulus schenkte die Gläser voll. Die Hülsen der Kastanien knackten zwischen ihren Fingern und bildeten bald kleine Haufen auf der Holzplatte des Tisches.
Originaltiteclass="underline" ›Souvenir‹
Copyright © 1985 by Renato Pestriniero
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Italienischen übersetzt von Andreas Brandhorst
Illustriert von Klaus D. Schiemann
Michael K. Iwoleit
Europa nach dem Regen
Unschlüssig verharrte das Mädchen auf der untersten Stufe. Ihr Blick fuhr verdrossen über den Pavillon, dessen lückenhaftes Geländer sich einladend vor ihr auftat. Der alte Mann kehrte ihr den Rücken, lehnte mit beiden Ellbogen auf dem Geländer und starrte schweigend hinaus. Sein schütteres Haar bauschte sich in der Brise des Abends. Das gedämpfte Glühen der Dämmerung verlieh seinem verblichenen Gewand eine blaßrosa Tönung. Auf ein zögerndes Räuspern des Mädchens hin regte er sich nicht.
Mit einem Seufzer schritt sie hinauf und hielt hinter ihm inne. Ohne sich nach ihr umzusehen, murrte er: »Was führt dich her? Sagte ich nicht, daß ich nicht gestört werden will?«
»Dir mag es gefallen«, erwiderte sie zögernd. »Ich aber kann nicht allein sein.«
Ungehalten wandte er sich zu ihr um. Sein faltiges Gesicht war schiefergrau, sein Lächeln düster.
»Nun sprich schon. Was verlangst du noch von mir? Habe ich nicht getan, was ich konnte, um dir das Warten erträglich zu machen?«
»Ich will leben«, sagte sie.
Der Alte unterdrückte eine Aufwallung von Zorn. Für einen Moment war er versucht, ihr ins Gesicht zu schlagen, doch sie warf stolz ihr schwarzglänzendes Haar in den Nacken und diese Geste gefiel ihm. Er lächelte und blickte wehmütig in die samtweiche Düsternis hinaus.
»Leben?« flüsterte er. »Ich weiß nicht einmal, ob ich selber lebe. Wie sollte ich dir diesen Wunsch erfüllen?«
Ihre Mandelaugen wurden feucht, ein Schatten von Enttäuschung fuhr über ihre wächsernen Züge. Behutsam nahm er sie an der Schulter und führte sie in den Garten.
Der Pavillon war von schattenspendenden Bäumen umgeben, die auf einer Seite den Blick in die Ebene freiließen. Mannshohe Marmorblöcke standen verstreut umher. Einige waren noch unbehauen, andere bereits zu Statuen verarbeitet, deren vielfache Posen immer wieder neue Variationen des einen Motivs darstellten. Dem Mädchen gefiel es kaum, daß der Alte sie auf eine solche Weise verewigte. Nur einmal vermochte eine Skulptur ihre Aufmerksamkeit in der Weise zu fesseln, daß sie stehen blieb, um sie näher in Augenschein zu nehmen.
Die Falten in den gemeißelten Gewändern schienen zart wie Seide. Alles in allem war dies wohl das vollkommenste Abbild des Mädchens. Nur der Kopf gab ihm ein groteskes Aussehen, denn es war der Kopf eines Vogels.
»Warum hast du das getan?« fragte das Mädchen argwöhnisch. »Das bin doch nicht ich.«
Der Alte, der neben ihr verharrt war und sein Werk selbstgefällig betrachtete, schob sie an der Hüfte weiter, ehe sie neue Fragen stellen konnte.
»Mach dir darüber keine Gedanken. Du würdest es ohnehin nicht verstehen.«
Ein schmaler Kiesweg wand sich zwischen den Bäumen und Statuen in den Wald hinein, dessen rasch dichter werdendes Gestrüpp im späten Licht wie Spinnweben wirkte. Bedächtigen Schritts führte der Alte seine Schutzbefohlene in die Geborgenheit ihres Heims zurück und legte sich auf dem Weg dorthin die Worte zurecht, um ihr seine Vergangenheit zu erklären.
»Was hast du gesehen?« fragte sie einmal.
»Nichts anderes als sonst«, antwortete er, als ginge es um völlig belanglose Dinge. »Die Flut rückt von den Bergen her jeden Tag ein Stückchen näher. Das tut sie seit Jahren. Bei Nacht sieht man die Glut bis hierher leuchten. Doch wir brauchen uns nicht zu fürchten. Sie wird uns nie erreichen.«
Sie nickte ohne Überzeugung. Ein Stück weiter öffnete sich das Dickicht zu einer kleinen, bald schon mondbeschienenen Lichtung, die halb von einem seichten, bis auf den Grund klaren See ausgefüllt war. An seinem gegenüberliegenden Ufer blieb so noch Platz für eine winzige Hütte aus verwitterten Holzpaneelen, deren Tür weit offen stand und den Blick in seine enge Stube freigab.