Sie lächelte, als sie mir diese Frage stellte. Das Sternenlicht machte etwas mit ihren Augen und verfärbte sie von hellem Lavendel zu Platin. Es machte sie härter und kälter, und ich schauderte wieder, wie ich schon oft an diesem Tag geschaudert hatte. Was hätte ein Fremder von meiner Schwester gedacht? Hätte er sie für schön gehalten, oder hätte er auch geschaudert?
»Er fragte, was die Menschen von Handred getan hätten, um die Götter zu beleidigen«, antwortete ich im Tonfall eines Schülers, der eine Lektion aufsagt.
Arain blickte die Straße hinunter und fuhr fort. »Ja. Er sagte, daß er noch nie einen Ort gesehen hätte, an dem es so viele Krankheiten gab. Er hätte noch nie von einem Fluß gehört, der so vergiftet sei wie der Dred. Er hätte noch nie eine Stadt mit so wenigen Kindern gesehen. Und als er Mera und mich in der Ecke entdeckte, sagte er, er hätte noch nie eine Stadt mit so vielen Ungeheuern gesehen.«
»Aber das hast du mir nie gesagt!« rief ich. Ich fühlte mich schuldig, weil ich einen Augenblick zuvor dasselbe gedacht hatte. Ich verschanzte mich hinter meiner Empörung. »Wie konnte er nur so etwas sagen! Du bist schön! Du warst ein Geschenk von Feder!«
Arain lachte humorlos. »Vielleicht für dich und die anderen Gäste in der Schenke. Sie schlugen den armen Mann und warfen ihn hinaus. Dennoch, seine Worte waren wahr.«
»Aber du und Mera, ihr seid keine Ungeheuer!«
»Wir sind anders als andere. In gewisser Weise sind wir wirklich Ungeheuer. Du bist nur an unseren Anblick gewöhnt, Kirth. Außerdem hatte der Fremde recht. Die Frauen von Handred haben Geschöpfe geboren, die man kaum Menschen nennen kann. Sehr viele. Das bemerkt jeder Reisende.«
»Aber was macht das?«
»Ich wundere mich nur. Wir wollen wissen, wie das kommt. Wir wollen wissen, was den Fluß vergiftet hat. Wir wollen wissen, was die drei Städte getötet hat und was unter unserem Tempel begraben ist und was es ist, das wir auf Befehl Maknas bis in alle Ewigkeit bewachen sollen. Wir glauben, daß die Antwort auf eine große Frage auch die anderen beantwortet. Wir wollen wissen, was Radna ist, Kirth. Nur das geheime Wissen der Diener von Feder kann die Antwort geben. Einer von uns mußte gehen.«
Es war also nicht so einfach, wie Mera gesagt hatte. Sie waren nicht zwei Leute, die verschiedene Dinge wollten. Ich sollte nie erfahren, wie sie es entschieden hatten – indem sie Strohhalme zogen oder Blätter lasen oder durch ein Kampfspiel, in dem jede um das Leben der anderen kämpfte. Wer konnte schon den Gewinner vom Verlierer unterscheiden?
Nun schien das große Rad der Welt im Zentrum gebrochen. Die Sterne über meinem Kopf tanzten chaotisch, obwohl ich sie zur Ordnung ermahnte, und dunkle Vorahnungen übermannten mich. In meinen Ohren klingelte das vom rasend pochenden Herzen angetriebene Blut, denn nun wußte ich genau wie meine Schwestern, daß Arain bei dieser Suche sterben würde, wenn nicht ein Wunder geschah. Kein Mensch besaß die Kraft, tief in Radnas Geheimnisse einzudringen, ohne sein Leben zu verwirken. Das wußten sogar schon die Kinder in Handred.
Später, als wir bei Kerzenlicht an Meras Bett saßen, beobachtete ich Arain, die sie festhielt. Seidenhaar mischte sich in Seidenhaar, bleiche Haut lag an bleicher Haut, als wären die beiden Frauen ein einziges Wesen. Und ich dachte, daß, wenn eine meiner Schwestern starb, die andere ihr bald folgen würde. Ich stellte mir eine leere Welt ohne sie vor und legte ebenfalls einen Eid ab. Ich schwor, daß ich mit ihnen sterben würde, wenn es dazu käme.
Mein Freund, nicht einmal der Große Feder sah die Dürre voraus und den Untergang der Zivilisation der Ahnen. Makna nahm es auf sich, die Tempelwache zu behüten, aber jene Nachkommen der Alten waren Tiere in einem hungernden Land. Und selbst der Kraft der Götter sind Grenzen gesetzt.
Makna schrieb, daß Radna die größte Macht ist, welche die Welt je kannte. Sie respektiert keine Grenzen, und ein Hauch von ihr tötet Menschen und Tiere und alles, was wächst. Ihr Hauch wird mit dem Wind getragen und im Regen, und es gibt kein Entrinnen.
Nachdem Arain in dieser Nacht bei ihr gesessen hatte, erholte Mera sich schnell von ihrer Krankheit. Mera bewarb sich dann als Offizierin der Armee von Handred und wurde angenommen. Ihr alter Feind, die Sonne, hätte ihr vielleicht den Erfolg in diesem Beruf verwehrt. Aber ich entwarf ihr ein Schutzgerät aus buntem Glas für die Augen. Und wir entwickelten eine Salbe aus weißem Lehm und dem Öl der Schafswolle. Sie schmierte sich die Salbe auf Hände und Gesicht, um das grimmige Tageslicht abzuhalten. Sie wurde eine geschickte Kriegerin und gab auf dem Schlachtfeld ein so erschreckendes Bild ab, daß sie rasch befördert wurde und bald General der Armee von Handred war. Die Soldaten liebten sie so sehr, und sie kämpfte so gut für sie, daß die Nupaskans eine Zeitlang in ihr eigenes Land zurückgedrängt wurden. Mera vergaß nie, daß die Nupaskans ihr die Eltern genommen hatten.
Arain verfolgte ihre Ziele auf eine stillere Weise, aber mit ähnlichem Erfolg. Was Jana anging, hatte sie Recht behalten. Jana konnte sie nicht für ihre verschiedenen Rebellionen bestrafen, und Arain gewann viele Freunde unter den anderen Angehörigen des Dienstes. Als Jana an der langsamen, langen Krankheit starb, die unweigerlich die Oberin dahinraffte, war die Wahl der Nachfolgerin kurz und einstimmig. Arain wurde sechs Jahre, nachdem sie in den Tempel eingetreten war, die Oberin des Dienstes von Feder.
Kurz nach Arains Ernennung zur Oberin verließ ich die Werkstatt von Mathias und zog in ein eigenes Haus. Er hatte mir eine solche Liebe zu seinem Handwerk eingeflößt und mich den Zauber von Lehm und Feuer so gut gelehrt, daß ich bald der wohlhabendste Töpfer in Handred wurde. Die Reichen, die Frommen und die Hochgestellten suchten mich auf, daß ich ihnen schöne Stücke machte. Bald trugen Lehmmischungen und Glasuren, deren Geheimnisse nur ich wußte, meinen Namen. Bald hatte ich auch eigene Lehrlinge.
Wann immer wir uns für ein paar Stunden freimachen konnten, hockte ich mich mit meinen Schwestern an einen Herd, wie wir es früher immer getan hatten, und tranken guten Wein und aßen und führten die Gespräche, wie sie unter Verwandten üblich sind, die gute, alte Freunde geworden sind. Oft trafen wir uns in einem von Feuer erleuchteten Zimmer in Meras großem Haus, oder auch in meiner Werkstatt.
Aber nun war es nur noch Mera, die die Lehrlinge verführte. Arain kam bei diesen Gelegenheiten mit mir, um Feuerholz zu sammeln. Einmal fragte ich sie nach dem Grund, denn diese und einige andere Veränderungen bei ihr beunruhigten mich.
Während ich Spaltholz in ihre Arme stapelte, erwiderte sie: »Ich wünsche es nicht mehr.«
»Ich frage mich, ob es dir gutgeht«, sagte ich. Ihre Haut war immer sehr bleich gewesen, aber nun schien kein Leben mehr in ihren Wangen zu sein, und ihre Augen waren milchig wie die eines alten Hundes. Sie ermüdete leicht und legte sich oft hin und schlief, während Mera und ich noch redeten und lachten.
»Doch, es geht mir gut«, sagte sie.
»Badest du noch oft im Wasser des Kalten Bachs?« fragte ich.
Sie lächelte nur und sagte: »Mach dir keine Sorgen, kleiner Bruder.«
Eines Nachmittags, als Arain und ich, beladen mit Käse und süßem Wein und Brot, bei Meras Haus eintrafen, fanden wir sie allein in der Küche an einem ersterbenden Feuer sitzend. Nirgends war ein Diener oder Lieblingsoffizier zu sehen. Mera war auf dem harten Stuhl zusammengesunken. Sie hatte die Stiefel ausgezogen, ihr Hemd hing aus der Hose, und in einer Hand hatte sie eine leere Weinflasche. Auf dem Boden lag ein Weinpokal.
Sie begrüßte uns nicht, als wir unsere Lasten absetzten. Es war Spätherbst, und im Zimmer war es so kalt, daß unser Atem in weißen Fahnen in der Luft hing. Sie schien es nicht zu bemerken. Ich machte mich zuerst daran, das Feuer anzufachen.