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Sie war bei allem unverletzt geblieben, empfand nicht einen Hauch von Schmerzen. So starr, als sei sie wie die toten Wälder selbst zu Stein geworden, verharrte sie scheinbar schon seit Ewigkeiten. Ihr schütteres Haar aber bauschte sich wie in einer Brise, die noch aus den Tagen vor der Flut wehte.

Die geisterhaften Finger des Nebels ruhten über dem Land wie Vorboten einer schweigenden Zeit. Da und dort traten aus Rissen und Spalten im Boden scharfe Dämpfe. An den Oberflächen der Felsen, Marmorblöcke und dem versteinerten Geäst der umgeknickten Bäume taten sich fortwährend neue Poren auf. Allmählich verwandelte sich die erkaltende Landschaft vor ihren Augen zu einem Netz aus feinem Filigran. Felsen wurden zu Schwämmen, Baumkronen zu durchbrochenen Geflechten, Magmaadern zu schartigen Brücken zwischen Teich und Teich.

Irgendwann wandte sie sich dem Pavillon entgegen. Von dunkelrot bis gold glänzenden Magmasäulen und einem Gewirr herabstürzender Baumkronen umgeben, waren nur wenige seiner Pfeiler stehen geblieben, kaum genug, um das Dach zu tragen, das sich unter einer Last aufgefangener Zweige und versteinerten Blattwerks bog. Die Stufen und das Geländer waren während der Flut fortgerissen worden. In den Pfeilern hatten sich Risse gebildet. Nur die Skulptur mit dem Vogelkopf war unversehrt geblieben. Das Mädchen lächelte über dieses zweifelhafte Glück.

Sie durchschritt den ehemals blühenden Garten. Die Metamorphose, die der sterbenden Landschaft über Nacht ein neues Gesicht verliehen hatte, war an keinem noch so peripheren Detail vorbeigegangen. Als das Mädchen den See erreichte, an dessen Ufer sie ungezählte Jahre gelebt hatte, überwältigte sie fassungsloses Staunen. Anstelle des leicht vom Wind bewegten Wasserspiegels war nun eine fugenlose Fläche metallisch schimmernden Gesteins. An den Holzverschlag dahinter erinnerten einige versteinerte Paneele.

Sie sank zu Boden, barg die gefalteten Hände in ihren Schoß und begriff erst jetzt, wie hilflos sie war. Nichts von dem, was sie vormals gelernt und erfahren hatte, schien noch von Nutzen. Die Sehnsüchte eines jungen Lebens, all die Fragen, die sie über Jahre hin beschäftigt hatten, verloren jegliche Bedeutung. Mit einem Schlag war alles vergangen. Etwas anderes war an seine Stelle getreten, doch was sich aufgetan hatte, schien ins Nichts zu führen.

Um der Verzweiflung vorzubeugen, wandte sie sich ab von diesem Trümmerfeld und begab sich dorthin zurück, wo sie in der Nacht der Katastrophe unversehrt geblieben war. Ein lauer Wind kam auf und trieb ihr schwefelig riechenden Dunst ins Gesicht.

Im Laufe der nächsten Stunden klärte sich die Sicht. Die zerfurchten Bergketten tauchten aus den dichten Schleiern auf. Die Sonnenwärme löste die Wolken auf. Die Landschaft offenbarte ihre neue Beschaffenheit.

Bis zu den Bergen schloß sich ein Magmasee dem nächsten an. Wo vereinzelte Ströme aufeinandergetroffen waren, hatten sie sich beim Erkalten zu verschlungenen Gebilden hochgetürmt. Nun war die Ebene weithin von diesen goldfarbenen Stalagmiten übersät. Ihnen zu Füßen verkarstete der Fels von den Gasen, durchsiebt zu bimssteinhafter Leichtigkeit. Es schien, als strebe all dies einem Endstadium zu, das fast erreicht war, wenn auch nicht endgültig sein mochte. Offenbar gab es – zumindest was den von hier aus sichtbaren Teil der Welt anging – außer dem Mädchen nichts mehr, was noch lebte.

Sie fand keinen Anlaß, darüber verzweifelt zu sein. Ihre tiefverwurzelte Neugier, die zum Tragen kam, wann immer sich ihr ein Geheimnis offenbarte, lenkte ihre Gedanken fort von sich selbst zu dem Ursprung dieser Katastrophe. Es gab keinen Zweifeclass="underline" dieser mußte jenseits der Berge zu suchen sein. Irgendwo dort hatte es – was immer es auch sei – seinen Anfang genommen.

Da sie hier ohnehin nichts mehr hielt, kostete es ihr kaum Überwindung, den Entschluß zu fassen. Mit bemüht festen Schritten wagte sie sich langsam vor. Ein weitgezogener Hang führte in die Ebene hinab, und von dort schien der Weg sich unter dem unabänderlichen Glühen einer im Zenit verharrenden Sonne endlos zu dehnen.

Zu Anfang fiel der Marsch ihr leichter, als sie zu hoffen gewagt hatte. Nach einigen Meilen gewann sie die nötige Geschicklichkeit, um leichtfüßig von einer Felsfläche zur nächsten zu gelangen, war ihr Blick noch scharf genug, um in dem Gewirr Wege auszumachen, die begehbar waren. Es war weder zu heiß noch ließ der auffrischende Wind sie frieren. Ihre Sinne erfreuten sich an der aufblühenden Farbenfülle dieser mineralisierten Landschaft, deren Leblosigkeit einem neuen Paradies Gestalt verlieh. Nun dankte das Mädchen dem Himmel für dieses unverhoffte Geschenk. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich frei. Der Wächter war fort, niemand hielt sie auf. Ihr war freigestellt, wohin sie gehen mochte, und angesichts der Fülle an Neuem, das sie umgab, fiel es ihr nicht leicht, bei der Wahl ihres Ziels auf den fernen Gipfeln zu beharren.

Es schien steinerne Tränen geregnet zu haben, so ließ der Anblick sich am ehesten beschreiben. Aus der Entfernung waren die Magmaseen und -tümpel noch wie flache Becken erschienen, als wäre dort Wasser aus dem Untergrund hervorgequollen. Aus der Nähe entpuppten sie sich jedoch als aufgewölbte Formen, die sich aber leicht begehen ließen. Sie maßen zumeist zwischen zwanzig und hundert Schritt im Durchmesser, einige erreichten auch die Größe eines mittleren Sees. Einmal schritt sie mehrere Stunden über denselben See, verhielt dabei mitunter, um sich zur Oberfläche hinabzubeugen und festzustellen, wie es tief unten noch immer verhalten glühte.

War die Landschaft noch am Vortag beinahe gänzlich rot bis gelbglühend gewesen, zeigte sie sich nun in allen Farben des Spektrums. Die Seen und Tümpel schwankten zwischen tiefroten und ockerfarbenen Tönen. Vereinzelte Felsen schimmerten matt in tiefem Grün. Die Brücken und Ufer zwischen den Seen waren zerfurcht und rissig, an seltenen Stellen glatt, doch in allen Ritzen und Winkeln voll überraschender Farben. Den prachtvollsten Anblick schließlich gaben die übermannshohen Magmasäulen ab. Sie wirkten wie in der Hitze zerlaufene Gebilde aus mit Gold versetztem Glas. Ihre Oberfläche war von Schlieren durchzogen, die bis in ihre dunkelsten Winkel metallisch schimmerten. Von allem, was das Mädchen in der Ebene zu Gesicht bekam, waren diese Säulen die eigenständigsten Schöpfungen der Flut. Sie ließen sich mit nichts vorher Gekanntem vergleichen.

Kein Laut war zu hören. Außer ihren Schritten, ihrem Atem und ihrem aufgeregt pochenden Herzen regte sich weithin nichts. Der Frieden schien unangreifbar. Wie der Schoß einer allumfassenden, in ihrer Stille gütigen Mutter umgab sie die Landschaft ringsum. Das Zeitalter unsteter Hoffnungen war einer Epoche archaischen Friedens gewichen und lud zu Erkundungen ein.

Doch schon bald machten ihr deutliche Anzeichen von Schwäche zu schaffen. War sie am ersten Tag noch unbekümmert vorangekommen, so schien sich nun der vormals leichtbegehbare Boden unter ihren Füßen unablässig zu verhärten. Ihre Sohlen schmerzten mehr und mehr, ihre Kehle war vom Atmen der heißen, staubigen Luft ausgedörrt, und in ihren Augen brannte unbarmherzig das marmorweiße Licht.

Hinzu kam, daß sie nun auf neue Hindernisse traf. Erst als sie selbst über die Seen nur noch mit Schwierigkeiten vorankam, bemerkte sie, daß die versteinerte Reglosigkeit um sie her doch weiterhin Verwandlungen unterworfen war. Etwas tat sich an den porösen Oberflächen der Felsen, Seen und Lavasäulen. Sie büßten merklich an Glanz ein, verloren ihren metallischen Charakter, was sich zuerst darin äußerte, daß das Sonnenlicht nur noch schwach von ihnen reflektiert wurde. Offenbar war dies die Begleiterscheinung eines Prozesses, dem die ganze Landschaft unterlag: zuerst nur vereinzelt, dann immer häufiger sprossen spitze Nadeln und schartige Kanten aus dem Fels hervor. Wenig später waren die vormals glatten Felsen überall mit verschrobenen Gebilden bedeckt, die matten Kristallstauden glichen.