Copyright © 1991 by Michael K. Iwoleit
Vance Aandahl
Im Lichte des Heiligen Krauts
Keine Ferne macht dich schwierig.
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
– GOETHE
Das ist verrückt, dachte Mark. Auf was habe ich mich da eingelassen? Er sah auf den Tachometer, dessen Nadel auf über sechzig kletterte.
»Steven«, sagte er, »glaubst du nicht, du übertreibst ein bißchen? Ich meine …«
»Ach was, red keinen Scheiß und genieß die Fahrt! Ich weiß, was ich tue.«
Mark duckte sich, als Steven das Pedal bis unten hin durchtrat. Sie rasten nun noch schneller durch die Dunkelheit, mit einer Geschwindigkeit von fünfundsechzig, siebzig, fünfundsiebzig Meilen in der Stunde auf der kurvigen Bergstraße. Der alte Plymoth hatte weder eine Windschutzscheibe noch sonstige Fenster. Ein ständiger Strom von Nachtluft rauschte durch ihn hindurch und peitschte Marks lange Haare und seinen Bart wild in alle Richtungen und wehte ihm scharf in die Augen, so daß er die Straße vor ihnen nicht sehen konnte.
Warum o warum habe ich mich auf ein so hirnverbranntes Unternehmen eingelassen? Dieser Steven – wer immer er sein mag – muß eine Art Wahnsinniger sein. Und von dem anderen Typen weiß ich nicht einmal den Namen.
Mark warf einen Blick hinüber zu dem Rastafarier, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. Der tobende Wind zerrte an den wirren Reggaelocken des Rasta-Mannes, doch seine blutunterlaufenen Augen erschienen unbeeindruckt, unerschütterlich ruhig, uralt und weise. Entweder das, oder er war so high, daß ihm nichts etwas ausmachte.
Schneller und immer schneller preschte der alte Plymoth die Steigung hinauf, fuhr auf zwei quietschenden Reifen durch die Kurven, wobei sein überdrehter Motor heulte und seine Scheinwerfer einen verrückten Tanz über das Dickicht tropischer Büsche zu beiden Seiten der Straße vollführten. Schotter knallte wie Schrot aus einer Flinte gegen den Unterboden des Wagens. Steven nahm gerade so viel Gas weg, daß er den Plymoth durch eine scharfe Haarnadelkurve brachte, ohne sich in den Dschungel zu überschlagen. Gleich darauf wurde die Straße noch schmaler und endete unvermittelt auf einer Lichtung. Mark zuckte zusammen, als Steven mit voller Wucht auf die Bremse trat. Der Plymoth schleuderte seitlich über die erdige Grasnarbe und kam in einem verflochtenen Gestrüpp holpernd zum Stehen.
Einen Moment lang saßen die drei da und ließen die plötzliche eindringliche Stille auf sich einwirken. Der einzige Laut war das schwache Summen eines Moskitos. Die Spitze eines Farnwedels, die durch den leeren Rahmen des vorderen Fensters hereinragte, kitzelte Mark leicht an der Backe.
»Hier isses, Mann«, sagte der Rasta mit sanfter, melodischer Stimme. Er lächelte geheimnisvoll, dann glitt er geschmeidig aus dem Wagen.
Marks Herz pochte wild, während er nach Steven auf der Fahrerseite ausstieg. Er hatte den jungen Mann mit dem Stoppelhaarschnitt früher am Abend kennengelernt, und zwar im ›Blauen Gockel‹ in Trenchtown. Während sie sich unterhielten, hatten sie gemeinsam eine Flasche Rum der Hausmarke geleert. Steven hatte sich immer weiter über den Tisch gebeugt, bis sein jungenhaftes Gesicht fast Marks berührte. Er hatte Mark in einem verschwörerischen, höchst vertraulichen Ganz-unter-uns-Ton in den Drogendeal eingeweiht, den er vorhatte. Benebelt vom Rum, hatte Mark spontan gehandelt und sich nicht nur bereit erklärt, als Partner ins Geschäft einzusteigen, sondern auch die Hälfte des Startkapitals beigesteuert. In dem Moment war er von einem überschwenglichen Hochgefühl wegen seiner unternehmerischen Gerissenheit beseelt gewesen. Jetzt kam er sich wie ein Dummkopf vor. Er saß in der Falle, in einer äußerst mißlichen Lage, die immer übler wurde; er war ihr hilflos ausgeliefert und konnte nichts anderes tun, als sich mitziehen zu lassen und das Beste zu hoffen. Zum Aussteigen war es zu spät.
Die beiden hängten sich an die Fersen des Rasta-Mannes, der durch den Mondschein auf die gegenüberliegende Seite der Lichtung ging. Ihre Schuhe verursachten schmatzende Geräusche im Matsch.
Der Rasta bückte sich, griff unter einen Busch und zog einen großen Seesack aus Segeltuch hervor.
»Echter Blue-Mountain-Stoff, Ganja vom Feinsten, Mann!«
Er stellte den Seesack aufrecht vor sich hin und kniete nieder, um ihn aufzuknüpfen. Der beißende Duft von Marihuana stieg Mark in die Nase.
»Das is’ neue Ernte – nich’ so’n vertrocknetes Zeug, wie ihr’s in den Staaten raucht.«
»Beste Ware, was?« Steven fuhr sich mit einer Hand über die dichten Haarstoppeln und beugte sich vor, um in den Sack zu spähen. Mark stand einfach nur da; er hatte Angst, sich zu bewegen, während sein Herz vor Furcht und Aufregung raste.
»Echtes Ganja. Das is’n heiliges Kraut. Die Pflanze hat ’nen lebendigen Geist. Der kann uns was sagen. Der kann uns erleuchten. Der kann uns erfüllen mit der telepathischen Inspiration des Allmächtigen Selassie I Rastafari. Wenn einer, der sich ’ne Dosis von dem Ganja reinzieht, Liebe im Herzen hat, dann is’ Ganja zufrieden mit ihm und macht’n glücklich.«
Der Rasta stand auf und sah über Stevens Schulter hinweg Mark an. Er blickte Mark direkt in die Augen und schenkte ihm ein breites, unschuldiges, kindliches Lächeln.
»Erst nehm’ wer das Ganja und tun’s ins Auto. Dann könnt ihr mich bezahlen.«
»Wir bezahlen dich, klar.« Stevens Hände zitterten. Er zog den Reißverschluß seines Pilotenblousons auf und holte eine Pistole heraus. »Du bescheuerter Nigger!«
»Nein!« schrie Mark. »Tu’s nicht …«
Entsetzt starrte er auf die Waffe in Stevens Hand, die schnell hintereinander dreimal zurückschlug. Es war nicht das geringste zu hören. Verschwommen wurde Mark klar, daß die Waffe mit einem Dämpfer ausgestattet sein mußte. Oder vielleicht stand er auch unter Schock und konnte nichts hören. Sehen konnte er jedoch. Im Licht des Mondes erschienen drei glatte, schwarze Einschußlöcher auf der einen Seite des ausgefransten Bob-Marley-T-Shirt des Rasta-Manns, und – geheimnisvolle Rätsel – der Mann lächelte nur! Seine blutunterlaufenenen Augen blinzelten kein einziges Mal. Sie blieben unbeeindruckt und unerschütterlich ruhig, uralt und weise.
Steven taumelte zurück, den Mund zu einem Schrei geöffnet. Doch schließlich sanken die Augenlider des Rasta-Mannes herab, und er stürzte seitlich zu Boden; als sein Körper mit dem Gewicht des Todes auf dem vom Regen aufgeweichten Dschungelboden aufkam, gab es dumpfes Platschen.
»Mein Gott …«, flüsterte Mark. »Du … du hast ihn umgebracht.«
»Für ’nen bepißten Scheißhippie kapierst du ganz schön schnell.« Steven grinste höhnisch und richtete die Pistole auf Marks Kopf. »Vielleicht sollte ich mit dir auch aufräumen.«
Ein Teil von Mark wollte sich umdrehen und wegrennen. Ein anderer Teil schäumte vor Wut.
»Vielleicht solltest du das«, fauchte er. »Du beschissener, widerlicher Hurensohn.«
Schneller als Mark es für möglich gehalten hätte, machte Steven einen Satz nach vorn und schlug ihm mit dem Pistolenlauf auf den Mund. Mark spürte, wie seine Lippe aufplatzte, ein Zahn zerschmettert wurde, ein spitzer, stechender Schmerz durch seinen Gaumen hinauffuhr und in der Stirn explodierte. Er stolperte zurück, beugte den Kopf tief nach unten und betastete sein Gesicht mit beiden Händen. Sie fühlten sich naß an. Benommen nahm er die Finger von seinem Mund und sah zu ihnen hinunter. Seine Hände waren blutverschmiert. Er hielt sie gewölbt auf, um das Blut aufzufangen, das immer noch aus seinen Lippen quoll und von seinem Bart tropfte.