»Hinlegen, Pisser! Sofort!«
Mit einem heftigen Pochen in der Mundgegend und Schwindel im Kopf sank Mark auf Hände und Knie nieder.
»Ganz runter, Pisser – auf den Bauch!«
Die Stimme klang in Marks Ohren metallisch und unwirklich. Er zögerte. Etwas traf ihn in der Seite und warf ihn mit dem Gesicht nach unten in den Schlamm.
O mein Gott! Er hat auf mich geschossen! Er hat auf mich geschossen!
»Okay, Pisser, bleib schön so liegen. So ist es brav. Schieb deine Arme unter deinen Körper und behalt sie dort.
Und weißt du, was ich jetzt von dir will, Pisser? Jetzt pack nach unten und drück deine Eier, drück sie richtig fest, weil ich keine Hippies leiden kann, Pisser – ich hab’ Hippies noch nie leiden können, und schon gar keine alten Hippies –, und wenn du dich den Bruchteil eines Zentimeters bewegst oder auch nur heftig atmest, blas’ ich dir dein Scheißgehirn aus dem Kopf.«
Marks Mund war gefühllos geworden, doch der Schmerz in seiner Seite war qualvoll. Er biß die Zähne aufeinander und versuchte stillzuliegen. Als er sich ganz auf diesen Schmerz konzentrierte, kam er zu dem Schluß, daß er nicht von einem Schuß herrührte, sondern von einem festen Fußtritt in die Rippen. Vielleicht waren eine oder zwei seiner Rippen gebrochen, doch er war nicht angeschossen. Noch nicht.
»Laß dir mal was sagen, Pisser. Mit deinem zotteligen Haar siehst du aus wie ein verdammt verlaustes Tier. Wenn ich mir Tiere angucken will, dann geh’ ich in den Zoo – dafür brauch’ ich keine Scheißhippies.« Stevens Stimme überschlug sich und zischte vor Haß, wurde immer schriller. »Ich wette, du fickst deinen Hund von hinten, Pisser. Ich wette, du bohrst dir in der Nase und frißt es auf. Ich wette, du rollst deine Scheiße zu kleinen Kügelchen und spielst damit, oder? Oder? Oder?«
Gott hilf mir, dachte Mark. Ein eisiger Schauder durchfuhr ihn, und mit Entsetzen begriff er vollkommen, was Steven tat. Es war für Steven verhältnismäßig leicht gewesen, den Rasta-Mann zu töten, denn ein Rasta war nur ein Jamaikaner, ein Schwarzer, ein Nigger – ein Nichts in der verzerrten Wertskala eines Mörders. Aber Mark wäre nicht so leicht umzubringen. Mark war Amerikaner, noch dazu ein weißer. Bevor Steven den Abzug betätigen konnte, mußte er sich selbst in eine psychische Raserei steigern, und das erreichte er dadurch, daß er seinem Opfer grobe Schweinereien an den Kopf warf.
»Bitte, bitte … bring mich nicht um!«
Mark sprach in einem heiseren, kläglichen Flüsterton. Die Angst hatte sich ihm auf die Stimmbänder gelegt.
»Ich werde es niemandem verraten … ich verspreche es …«
Er haßte sich selbst wegen seines Flehens. So sehr hatte er sich noch nie im Leben erniedrigt. Doch er konnte es nicht verhindern, daß er die Worte herauspiepste.
»Bitte … ich will nicht sterben …«
Er konnte nicht weitersprechen – sein Kinn hatte eine Sperre. Durch die zertrümmerten Zähne stieß er ein Schluchzen und Wimmern wie ein Baby aus. Unwillkürlich verkrampften sich seine Hände zu Krallen und bohrten sich tief in den Schlamm. Alle Muskeln seines Körpers zogen sich zusammen, strafften sich, bis er sich wie ein Stück Metall vorkam, das einen Belastungstest unterworfen war. Zu seiner Verwunderung merkte er, daß er vor Angst buchstäblich gelähmt war. Wenn die Spannung noch weiter anwuchs, würde seine Wirbelsäule ausrasten.
Er hörte, wie Steven in sich hineinkicherte. Der kleine Metallmund der Pistole wurde fester gegen seinen Schädel gedrückt. Plötzlich ertönte ein lautes Summen im Innern seines Kopfs, schwoll immer mehr an, dröhnte in seinen Ohren, überdeckte Stevens dümmliches Lachen und ließ Mark in Dunkelheit versinken. Im letzten Moment erkannte sein Gehirn in dem schrumpfenden Guckloch seines Bewußtseins, was das Summen war – es war das gleiche Geräusch, das man hörte, wenn man zu schnell aus der Hocke aufstand und ohnmächtig wurde.
Irgendwo heulte ein Motor auf. Marks Sinne tauchten wirbelnd aus der Dunkelheit auf. Er vermutete, daß er nur kurze Zeit ohnmächtig gewesen war, zwanzig oder dreißig Sekunden, höchstens eine Minute lang. Stöhnend bemühte er sich, den Kopf zu heben und sich umzuschauen.
Durch den verschwommenen Widerschein des Mondlichts sah er, wie auf der anderen Seite der Lichtung der alte Plymoth rückwärts aus dem Farn fuhr. Steven saß auf dem Fahrersitz. Während er die alte Kiste wendete, rieb er sich die Stoppelhaare und grinste Mark höhnisch an.
»Viel Glück, wenn du das hier den Bullen von Kingston erklären mußt, Pisser.«
Mit dröhnendem Gelächter ließ er den Motor aufheulen und schoß mit dem Plymoth quer über die Lichtung, wobei er direkt über den Körper des Rasta-Mannes fuhr. Mark sah, wie der Seesack mit dem Marihuana auf dem Rücksitz auf und ab hüpfte. Er drehte den Kopf und blickte den Rücklichtern nach, die sich schlingernd und bebend auf der Straße außer Sichtweite entfernten.
Eine Zeitlang blieb er noch einfach so auf dem Bauch liegen, zu schwach, um aufzustehen. Endlich gelang es ihm mit aller Anstrengung, auf die Füße zu kommen, und mit leerem Blick starrte er in die Richtung, in der der Wagen verschwunden war.
Dieser Verbrecher. Bis ich bei der Polizei Anzeige erstattet habe, wird er längst außer Landes sein. Ich weiß nicht einmal, ob Steven sein richtiger Name ist. Es wird darauf hinauslaufen, daß man mir den Mord in die Schuhe schiebt, und das weiß er ganz genau.
Marks Oberlippe fühlte sich an, als ob sie zur Größe eins Golfballs angeschwollen wäre. Schmerzstöße schossen von seinen zerschmetterten Zähnen in die Nebenhöhlen hoch. Blut und Schlamm hatten seinen Bart verklebt. In seiner Rippengegend pochte ein schrecklicher Schmerz.
Sachte drehte er sich um und ließ den Blick über die Lichtung schweifen. Dort lag der Rasta-Mann, flach auf dem Rücken; sein Körper war teilweise im Schlamm versunken, wo ihn der Plymoth beim Überfahren niedergedrückt hatte.
Mark schleppte sich über die Lichtung und kniete neben dem Rasta nieder. Das Mondlicht erhellte das Gesicht des Schwarzen. Seine Züge waren gelassen, fast friedlich. Er glich einem liegenden Heiligen. Er hatte sich im Einklang mit sich selbst und der Welt befunden, als er starb, und es war noch zuwenig Zeit vergangen, als daß die Totenstarre seinen Mund zu einem hämischen Grinsen zurückgezogen hätte.
Mark beugte sich näher zu ihm. Er hatte den Eindruck, als ob sich die Lippen des Rastas öffneten. Die Härchen in seinen Nasenflügeln zitterten. Bildete Mark sich das nur ein, oder hob und senkte sich die Brust des Mannes tatsächlich, bewegte sie sich kaum wahrnehmbar in flachen Atemzügen auf und ab?
Du heilige Scheiße! Er lebt noch! Was soll ich jetzt machen?
Mark stand auf, überquerte die Lichtung und machte sich auf den Weg entlang der Straße, so schnell, wie die Schmerzen in seiner Seite es erlaubten. Beeil dich, ermahnte er sich selbst. Du mußt einen Arzt finden oder eine Krankenschwester oder irgend jemand, der dem armen Kerl helfen kann. Flink trugen ihn seine Beine auf der Straße dahin, immer weiter weg von dem Rasta.
Wem machst du eigentlich etwas vor? Du hast doch gar nicht die Absicht, Hilfe zu holen. Dir geht es doch nur darum, so schnell wie möglich den Berg hinunter und in dein Hotelzimmer zu kommen und deine Sachen zu packen und so blitzartig wie der Teufel aus Jamaika hinauszukommen, bevor irgend jemand dir Fragen stellt. Du rennst so, damit du nicht geschnappt wirst, genau wie Steven. Dort hinter dir liegt ein Mensch im Sterben, aber dir ist das gleichgültig. Du hast viel zuviel Angst, um dich noch länger hier aufzuhalten und ihm zu helfen. Steven hat recht. Du bist ein Pisser.