Er machte einen Schritt, und der schien endlos zu dauern. Er war sich ganz genau bewußt, wie sich sein Fuß vom Boden abhob und nach vorn ausschwenkte. Jede mikroskopische Weiterführung des biomechanischen Vorgangs des Laufens enthüllte sich ihm in Ultra-Zeitlupe.
Während des nächsten Schrittes konzentrierten sich seine Augen auf ein einzelnes Ganjablatt an der Spitze eines Zweigs. Er erforschte die Blattdecke, das Glitzern des Harzes auf seiner Oberfläche, das feine Spitzenmuster der Adern und Rippen, die Zartheit seiner gezackten Ränder, und ihm schien, als durchschaute er mit einemmal alle Geheimnisse botanischer Konstruktionen, die Rätsel der Photosynthese und Transpiration klärten sich für ihn in einem Augenblick göttlicher Offenbarung.
Während des nächsten Schrittes richtete er seine Augen in Naheinstellung auf ein anderes Blatt. Es bäumte sich ihm aus der Dunkelheit entgegen: gewaltig, bedrohlich, strahlend und mit metallisch glitzernden Lichtreflexen wie ein George-Lucas-Raumschiff oder vielleicht eine intergalaktische Kriegskanone der Maori; oder vielleicht war es auch nur eine große Bronze-Statue, von Grünspan überzogen, eine abstrakte expressionistische Skulptur, die im Wohnzimmer seines Geistes herumstand.
Während des nächstes Schrittes sah er sie alle gleichzeitig, Tausende von kleinen grünen Gebilden, die ihn ihrerseits anblickten, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, was sie waren oder wo er war und was er tat oder wer er war. Er fühlte sich wie eine Motte oder ein Windhauch oder ein entkörpertes Bewußtsein in ständiger Bewegung tiefer hinein in eine fremdartige Traumwelt, unentrinnbar angezogen von den Stimmen der Wesen, die hier lebten.
Die Stengel standen jetzt weniger dicht und gaben einen Weg frei, und schließlich trat er hinaus auf eine Lichtung. Vor langer Zeit war er auf einer anderen Lichtung gestanden, aber er konnte sich jetzt überhaupt nicht mehr daran erinnern. Jetzt gab es nur noch diese Lichtung, und in ihrer Mitte saßen acht Schwarze um ein unruhig flackerndes Lagerfeuer. Sie hatten natürlich lang gewachsene Bärte und Haare, die sich zu weichen Spirallocken gedreht hatten. Einige von ihnen trugen weiße Baumwollunterhemden zu verwaschenen Jeans und Ledersandalen, andere khakifarbene Arbeitshemden mit buntgemusterten Hosen, wieder andere langärmelige T-Shirts, die bis zur Taille aufgeknöpft waren und dazu in den afrikanischen Farben Rot, Grün und Schwarz gestreiften Hosen. Einer der Männer beschäftigte sich neben dem Feuer mit einem kleinen Kochtopf. Ein anderer schlug sanft eine Trommel. Ein dritter stand mit einem Buch in der Hand da. Er war älter als die anderen und trug eine Fahne mit einem Löwen darauf, die er sich um die Brust gewickelt hatte. Er öffnete das Buch und las laut vor.
Und Jahwe sprach: »Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe … Und Jahwe sah, daß es gut war.«
Sie reichten eine Bambuspfeife von einem zum anderen, und Rauch kräuselte sich aus dem Pfeifenkopf, bis die Wolken schließlich ihre Gesichter einhüllten. Er stand auf der anderen Seite der Lichtung und beobachtete sie. Er wußte, wer sie waren. Es waren seine Freunde, seine Brüder: Ras Michael und Ras Kwame und Ras Daryl, Bongo Syl und Bongo Jonathon und Bongo Saint-IMcLean, Rasta Herbert und Iya Mortimer.
Ja, er kannte sie, und jetzt fiel ihm auch wieder ein, wer er selbst war und warum er hier war. Die plötzliche Wiederkehr seines Ichs erweckte in ihm ein Gefühl der Leichtigkeit und Luftigkeit, als ob ihm eine große Last von den Schultern genommen worden wäre. Der Schmerz in seiner Seite war verschwunden. Ebenfalls verschwunden war seine Angst. Er trat weiter auf die Lichtung hinaus und ging langsam und vertrauensvoll auf sie zu. Einer nach dem anderen wandte den Kopf in seine Richtung und begrüßte ihn mit einem Lächeln und herzlichen Worten:
»Friede, Rasta.«
»Liebe, Rasta.«
»Friede und Liebe, Rasta.«
»Gelobt seist Du, Selassie I.«
»Ehrfurcht gebührt Dir, Rasta.«
»Willkommen in unserer Mitte, Bruder.«
»Geheiligt seist du, Bruder.«
»Geheiligt seist du, Ras Marcus.«
Ja, jetzt wußte er wieder ganz genau, wer er war und mit welchem Auftrag sie ihn weggeschickt hatten und wie er versagt hatte. Er wußte, daß sie ihm vergeben würden. Er war nicht mit dem Geld zurückgekommen, wie sie es sich erhofft hatten, den vereinbarten Preis für den Sack mit Ganja, aber Geld spielt keine so große Rolle. Das einzige, was wichtig war, war die Tatsache, daß er sicher zu seinen Brüdern und in die Gefilde des Heiligen Hains zurückgekehrt war.
»Der verrückte Glatzkopf«, erklärte er. »Schießt mit Pistole auf mich und nimmt Ganja mit ohne kein Geld nich’ zu zahlen.«
»Ham’s gesehen«, sagte Iya Mortimer.
Sie reichten ihm die Pfeife. Er nahm einen tiefen Zug und füllte seine Lunge mit dem Rauch des heiligen Krauts. Es vertrieb das Böse, das ihn berührt hatte. Es reinigte seine Seele. Er lächelte und ließ sich am Boden nieder. Dem Kochtopf entströmte ein herrlicher Duft nach Linsen, Erbsen und Hirsebrei. Er war glücklich, wieder bei seinen Brüdern zu sein, glücklich, wieder zu Hause zu sein.
Originaltiteclass="underline" ›In the Light of the Holy Herb‹
Copyright © 1988 by Mercury Press, Inc.
(erstmals erschienen in ›The Magazine of Fantasy and Science Fiction‹, Juli 1988)
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Irene Bonhorst
Illustriert von Jobst Teltschik
Joe R. Lansdale
Dichte kleine Stiche im Rücken eines Toten
Für Ardath Mayhar
Aus dem Tagebuch von Paul Marder
Bumm! Das ist ein kleiner Wissenschaftler-Witz und die richtige Art, diese Geschichte zu beginnen. Ich weiß übrigens nicht, was für einen Sinn dieses Tagebuch haben soll. Vielleicht kann ich mit seiner Hilfe meine Gedanken ordnen und verhindern, daß ich verrückt werde.
Nein. Wahrscheinlich habe ich mich dazu entschlossen, damit ich es lesen kann und das Gefühl habe, daß jemand mit mir spricht. Vielleicht trifft keiner der beiden Gründe zu. Es spielt keine Rolle. Ich will es einfach tun, das genügt.
Was gibt es Neues?
Ja, also, mein Tagebuch, nach all diesen Jahren beschäftige ich mich wieder mit asiatischen Kampfsportarten – oder zumindest mit dem System und der Gymnastik des Taekwon Do. Hier im Leuchtturm habe ich natürlich keinen Sparringpartner, deshalb muß das System genügen.
Natürlich ist Mary da, aber bei ihr beschränkt sich das Sparring auf Wortgefechte. Und in letzter Zeit kommt es nicht einmal mehr dazu. Ich sehne mich danach, daß sie mich einen Schweinehund nennt. Irgend etwas sagt. Ihr Haß gegen mich ist jetzt zur Vollkommenheit gereift, und sie hält es nicht mehr für notwendig zu sprechen. Die scharfen Linien um ihre Augen und ihren Mund, die emotionelle Hitze, die ihr Körper wie eine entsetzliche Fieberblase ausstrahlt, die ein Opfer sucht, genügt ihr. Sie lebt nur für den Augenblick, wenn sie (die Fieberblase) sich mit ihren Nadeln, der Tinte und den Fäden an mich heften kann. Sie lebt nur für die Zeichnung auf meinem Rücken.
Mary fügt jede Nacht ein neues Detail hinzu, und ich genieße den Schmerz. Die Tätowierung stellt eine große, blaue, pilzförmige Wolke dar, und in die Wolke hat sie wie einen Geist das Gesicht unserer Tochter Rae hineingezeichnet. Ihre Lippen sind fest zusammengepreßt, ihre Augen geschlossen, und tiefe Stiche täuschen ihre Wimpern vor. Wenn ich mich rasch und heftig bewege, platzen die Stiche manchmal auf, und Rae weint blutige Tränen.