Das ist einer der Gründe für die asiatischen Kampfsportarten. Wenn ich hart trainiere, reißen die Stiche leichter auf, so daß meine Tochter weinen kann. Tränen sind das einzige, was ich ihr zu bieten habe.
Jede Nacht entblöße ich ungeduldig meinen Rücken für Mary und ihre Nadeln. Sie sticht tief, und ich stöhne vor Schmerz, während sie vor Entzücken und Haß stöhnt. Sie fügt dem Bild weitere Farben hinzu; arbeitet mit brutaler Präzision, um Raes Gesicht deutlicher hervorzuheben. Nach zehn Minuten ist sie müde und will nicht mehr weiterarbeiten. Sie legt die Werkzeuge beiseite, und ich gehe zum großen Spiegel an der Wand. Die Laterne auf dem Regal flackert wie eine Kürbislaterne bei starkem Wind, aber das Licht reicht aus, damit ich über meine Schulter blicken und die Tätowierung begutachten kann. Sie ist schön. Sie wird jede Nacht besser, weil Raes Gesicht immer deutlicher hervortritt.
Rae
Rae. Mein Gott, kannst du mir vergeben, mein Liebling?
Doch obwohl der Schmerz der Nadeln wunderbar und reinigend wirkt, genügt er nicht. Deshalb wirble, trete und schlage ich auf dem Laufsteg am Leuchtturm um mich und spüre, wie Raes rote Tränen mir über den Rücken fließen und sich im Gürtelband meiner fleckigen Leinenhose sammeln.
Wenn mir die Luft ausgeht und ich nicht mehr schlagen und treten kann, gehe ich ans Geländer und rufe in die Dunkelheit hinaus: »Hungrig?«
Als Antwort auf meine Stimme steigt ein Chor von Seufzern empor und begrüßt mich.
Später liege ich auf meiner Pritsche, habe die Hände hinter dem Kopf verschränkt, starre zur Decke und versuche, mir etwas einfallen zu lassen, das würdig ist, in dir festgehalten zu werden, mein Tagebuch. Es gibt so selten etwas. Nichts ist wirklich die Mühe wert.
Wenn ich genug habe, lege ich mich auf die Seite und betrachte das große Licht, das einst den Schiffen leuchtete, aber jetzt für immer erloschen ist. Dann drehe ich mich auf die andere Seite und blicke zu meiner Frau hinüber, die in ihrer Koje liegt und mir ihren nackten Arsch zuwendet. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie es war, wenn wir miteinander geschlafen haben, aber das ist schwierig. Ich erinnere mich nur daran, daß es mir fehlt. Ich starre lange den Hintern meiner Frau an, als wäre er ein gemeiner Mund, der sich jeden Augenblick öffnen und mir die Zähne zeigen wird. Dann drehe ich mich wieder auf den Rücken, starre zur Decke hinauf und mache so bis Tagesanbruch weiter.
Am Morgen begrüße ich die Blumen, deren leuchtend rote und gelbe Blüten aus den Köpfen vor langem gestorbener Körper hervorbrechen, die nicht verfaulen wollen. Die Blumen öffnen sich weit und enthüllen ihre kleinen, schwarzen Gehirne und ihre gefiederten Fühler; sie strecken ihre Blüten in die Höhe und stöhnen. Das bereitet mir wildes Vergnügen. Einen verrückten Augenblick lang fühle ich mich wie ein Rocksänger vor seinem Publikum, das ihn mit leuchtenden Augen anstarrt.
Wenn ich von dem Spiel genug habe, hole ich den Feldstecher, Tagebuch, und suche mit ihm die Ebene im Osten ab, als erwarte ich, daß dort eine Stadt materialisiert. Das Interessanteste, das ich auf dieser Ebene erblickt habe, war eine Herde von großen Eidechsen, die nach Norden donnerte. Einen Augenblick lang dachte ich daran, Mary zu rufen und sie ihr zu zeigen, doch ich ließ es dann wieder bleiben. Der Klang meiner Stimme, der Anblick meines Gesichts regen sie auf. Sie liebt nur die Tätowierung und interessiert sich für nichts anderes.
Wenn ich aufhöre, die Ebene zu betrachten, gehe ich auf die andere Seite. Im Westen, wo sich der Ozean befindet, gibt es jetzt meilenweit nur noch von Sprüngen durchzogenen schwarzen Meeresboden. Die einzige Ähnlichkeit mit einer großen Wasserfläche bewirken die gelegentlichen Staubstürme, die aus dem Westen wie große Gezeitenwellen heranjagen und die Fenster am hellichten Tag schwarz färben. Und die Lebewesen. Hauptsächlich mutierte Wale, die ungeheuerlich groß und schwerfällig sind. Heutzutage gibt es sie im Überfluß, während sie einst beinahe ausgestorben waren. (Vielleicht sollten die Wale jetzt eine Art GREENPEACE-Organisation für Menschen gründen. Was meinst du, Tagebuch? Du mußt mir nicht antworten. Es ist nur ein weiterer kleiner Wissenschaftler-Witz.)
Diese Wale kriechen von Zeit zu Zeit in der Nähe des Leuchtturms über den Meeresboden, und wenn sie dazu Lust haben, schieben sie ihre Köpfe in die Nähe des Turms und betrachten ihn. Ich warte immer darauf, daß einer von ihnen herunterklatscht und uns zerquetscht wie Wanzen. Aber soviel Glück haben wir nicht. Aus einem unerfindlichen Grund verlassen die Wale nie den zersprungenen Meeresboden, um sich auf das Gebiet zu wagen, das wir früher Strand nannten. Es ist, als lebten sie in unsichtbarem Wasser und wären daran gefesselt. Vielleicht ist es das genetische Gedächtnis. Oder vielleicht enthält der gesprungene schwarze Boden etwas, das sie brauchen. Ich weiß es nicht.
Ich sollte wahrscheinlich erwähnen, daß ich einmal außer den Walen einen Hai gesichtet habe. Er glitt in großer Entfernung vorbei, und die Spitze seiner Flosse glitzerte im Sonnenlicht. Ich habe auch seltsame Fische mit Beinen und andere Wesen erblickt, die ich nicht benennen konnte. Ich werde sie vielleicht als Walfutter bezeichnen, weil ich einmal gesehen habe, wie ein Wal mit dem Unterkiefer über den Boden fuhr und die Geschöpfe, die hastig versuchten zu fliehen, in sich hineinschaufelte.
Aufregend, was? So verbringe ich jedenfalls meine Tage. Ich schlendere mit dem Feldstecher um den Turm herum, komme herein, um in dir zu schreiben, und warte ungeduldig darauf, daß Mary nach den Geräten greift und mir das Zeichen gibt. Schon der Gedanke daran bringt mir eine Erektion. Man könnte es wahrscheinlich als unseren Geschlechtsakt bezeichnen.
Und was tat ich an dem Tag, an dem sie die Große Bombe abwarfen?
Ich freue mich, daß du danach fragst, Tagebuch, wirklich. Ich tat das Übliche. Ich stand um sechs auf, ging scheißen, duschte und rasierte mich. Ich frühstückte. Ich kleidete mich an. Ich band mir die Krawatte. Ich erinnere mich, daß ich letzteres vor dem Schlafzimmerspiegel tat und dabei bemerkte, daß ich mich schlecht rasiert hatte. Ein Rest meines schwarzen Bartes zierte mein Kinn wie ein blauer Fleck.
Ich rannte ins Bad, um diesen Mißstand zu beheben, öffnete die Tür, und Rae stieg nackt wie am Tag ihrer Geburt aus der Badewanne.
Sie drehte sich überrascht um und sah mich an. Mit einem Arm bedeckte sie ihre Brüste, und die zweite Hand ließ sich wie eine weiße Taube im Busch ihrer Schamhaare nieder. Verlegen murmelte ich: »Entschuldige«, schloß die Tür und ging zur Arbeit – unrasiert. Es war ein unschuldiger Zwischenfall. Ein Zufall. Nichts Sexuelles. Aber wenn ich jetzt an sie denke, dann ist es meist dieses Bild, das mir als erstes einfällt. Vermutlich war es der Augenblick, in dem mir klar wurde, daß mein Kleines zu einer schönen Frau herangewachsen war.
Es war auch der Tag, an dem sie zum erstenmal ins College ging und – wenn auch nur einen Augenblick lang – das Ende der Welt erlebte.
Und es war der Tag, an dem das Dreieck – Mary, Rae und ich – zerbrach.
Wenn meine erste Erinnerung an Rae der Tag ist, an dem sie nackt in der Badewanne stand, dann ist die erste Erinnerung an unsere Familie ein Tag in ihrem sechsten Lebensjahr. Wir gingen oft in den Park; sie fuhr mit dem Karussell, stieg in die Schaukel und in die Achterbahn und landete schließlich auf meinem Rücken. (»Ich will bei Daddy Huckepack reiten.«) Wir galoppierten herum, bis meine Beine aus Gummi waren, und machten dann bei der Bank halt, auf der Mary saß und auf uns wartete. Ich drehte Mary den Rücken zu, so daß sie Rae herunterheben konnte, aber bevor sie es tat, umarmte sie uns jedesmal von hinten, streichelte Rae, drückte sie fest an meinen Rücken, und dann berührten Marys Hände meine Brust.