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Die weiße Salbe auf Meras Gesicht sprach Bände. Sie trug die Spuren einer staubigen Straße, von starkem Schweiß und Tränen. Doch wir hatten von keinen Überfällen und Kämpfen an diesem Tag gehört, und sie hatte keine sichtbaren Wunden.

»Ihr habt Wein mitgebracht«, sagte sie. »Sollen wir eine Flasche öffnen?« Sie klang gefaßt. Ein Fremder hätte kaum erkannt, daß sie schon schwer betrunken war.

Arain öffnete eine Flasche. Kurz darauf dröhnte das Feuer, und wir hatten volle Becher in den Händen.

Dann fragte Arain: »Was ist geschehen, Mera?«

Mera lachte laut. Der rauhe, bittere Klang ihrer Stimme ließ mich an Geier denken, und ich bekam Angst.

»Vor einem Monat schickte ich meinen Freund Hald mit einer kleinen Patrouille den Fluß Dred hinunter. Es war selbstsüchtig von mir. Ich hätte es nicht tun dürfen. Aber er sagte, daß er gehen wollte.« Sie lachte wieder; es war die Art von Lachen, die an Tränen grenzt. Dann sagte sie: »Sie wollen immer gehen.«

Sie nahm einen großen Schluck Wein. »Es gab Gerüchte, die Nupaskans hätten eine Möglichkeit entdeckt, sich vor dem Gift zu schützen. Ich befürchtete, daß ein Stoßtrupp unterhalb des Tempels am Dred lagerte, und daß sie einen Überraschungsangriff planten.«

Mera beugte sich vor und umklammerte die Stuhllehnen. »Hald kam heute zurück und berichtete. Ich saß bei ihm, als er vor drei Stunden starb. Er ritt zu den drei Städten und zurück und suchte nach Nupaskans, die ich mir nur eingebildet hatte.«

Arains und ich konnten zuerst nichts sagen. Nicht einmal die alten Männer am Feuer wußten von jemand, der in die drei Städte gegangen und lebendig zurückgekehrt wäre.

»Es tut mir leid«, sagte Arain.

»Aber er wußte doch, was geschehen würde«, sagte ich. »Warum ist er nur so viel weiter gegangen, als er mußte?«

Mera lächelte bitter. »Er dachte, er hätte einen Weg gefunden, sich und seine Männer zu schützen. Eine geheime Erfindung von ihm. Eine Art Anzug. Wie ein Chorhemd, Arain. Er hätte meinen Rat annehmen und vorher mit dir sprechen sollen.«

Aber Arain schüttelte den Kopf. »Du bist zu streng mit dir. Warum ihn aufhalten, wenn er sein Glück versuchen wollte? Außerdem müssen wir mehr über die Städte erfahren. Sag mir, hat er etwas herausgefunden?« Arains Augen glühten im roten Licht der Flammen begierig, und meine Furcht loderte auf wie ein Feuer. Eine kleine Stimme in mir fragte, wer diese gefühllose Frau war. Gewiß nicht jene, die ihr Leben riskiert hatte, um zu Meras Krankenlager zu kommen.

Mera sah sie mit einem Schweigen an, das tiefer und durchdringender war als jedes Wort. Dann sagte sie langsam: »Er hat nichts gefunden.«

Arain wandte sich ab und sagte ohne aufzublicken: »Bitte, vergib mir meinen Übereifer. Ich will dieses Wissen zum Wohl von uns allen erlangen. Es überwältigt mich. Die Antwort ist so nahe.«

Mera sagte nichts, und Arain fuhr fort wie ein Fluß, der nach dem Regen über die Ufer tritt. »Hald war stark, und er war fest entschlossen. Niemand hätte ihn aufhalten können. Was hätten wir ihm sagen können? Nur, daß das Chorhemd von Makna nicht funktioniert. Hätte ihn das gestört, nachdem er einen eigenen Schutz entwickelt hatte?«

Wenn Mera nicht so betrunken gewesen wäre, dann hätte sie sicher nicht gesagt, was sie nun antwortete. »Wir hätten ihm vom Buch von Makna erzählen können, Arain. Er hätte nicht sterben müssen.«

In diesem Augenblick wurde ich, ohne es zu wollen, zum Hüter schrecklicher Geheimnisse. Wenn ich sie nur aus meinem Bewußtsein hätte schleifen können wie die Kerben in einem frisch gedrehten Topf. Aber das Bewußtsein eines Menschen ist nicht wie Ton.

Man sagte, daß man, in das heilige Chorhemd von Makna gekleidet, das Gift von Radna unbeschadet überstehen konnte. Ich wußte, daß Arain unter die Erde ging, manchmal, um die heiligen und geheimnisvollen Pflichten einer Oberin auszuführen, manchmal auch, um ihre Wißbegierde zu befriedigen. In diesen feuchten Gängen und Höhlen stand nur das Chorhemd von Makna zwischen ihr und dem Tod. Aber Radna war stark, und das Chorhemd war alt. Nun hatten sich meine ärgsten Befürchtungen bestätigt. Maknas Chorhemd funktionierte nicht. Arain starb. Aber was war mit dem ›Buch‹, von dem Mera gesprochen hatte? Wenn es Hald hätte retten können, dann konnte es doch auch Arain retten.

»Das Buch Maknas? Was ist das?« Meine Worte durchbrachen das Schweigen.

Arain trat vor das Feuer, senkte den Kopf und schloß die Augen, als wollte sie einen Teil der Welt ausblenden. »Wir wissen zu wenig über das Buch, um schon darüber zu sprechen.«

Aber Mera, vom Alkohol störrisch, knurrte: »Du irrst dich, meine Schwester. Du irrst dich.«

»Bitte, Mera. Wir sind noch nicht sicher.«

Mera erhob sich vom Stuhl und ging schwankend zu ihr. »Ich bin keine Göttin, Arain, ich bin eine Frau mit einer Armee von Sterblichen, die bluten und sterben. Unsere Feinde sind uns fünf zu eins überlegen. Willst du warten, bis die Nupaskans den Tempel einebnen, weil sie glauben, uns damit eine nicht existierende Kraft zu nehmen? Willst du warten, bis Radna auf das Land losgelassen wird und alle Menschen am Fluß sterben?«

»Warum sollten die Nupaskans die Geschichten in einem alten Buch fürchten, Worte, die von der Hohepriesterin des Tempels der Feinde ausgelegt werden? Es ist nicht so einfach, wie du glaubst, Mera. Der Wein hat dich dumm gemacht«, schloß Arain scharf.

Ich verfolgte diesen zornigen Wortwechsel verwirrt. Welche schreckliche Wahrheit barg Maknas Buch? Ich vermochte es nicht zu erraten. Was auch immer das Geheimnis war, meine Schwestern standen sich reglos gegenüber, in ihrem Denken entzweit, wie ich sie noch nie erlebt hatte.

In ihrem trunkenen Zorn forderte Mera Arain noch einmal heraus. »Es ist eine Schande, Oberin, nach allem, was du aufs Spiel gesetzt hast. Eine Schande, herauszufinden, daß Makna nichts weiter war als ein Vasall und die Ahnen ein Volk von Narren!«

Kein Pfeil hätte Arain tiefer treffen können als Meras bittere Worte. Ich sah, wie sie die Fäuste ballte und wie die Adern an ihrem Hals schwollen, ich sah den Augenblick, in dem die Leidenschaft sie überwältigte. Mera hatte es auch bemerkt, aber sie war vom Wein benommen und konnte sich nicht wehren. Arain schlug sie unter das Kinn; der Schlag kam von unten, so daß Meras Kopf zurückgeworfen wurde. Sie stürzte auf den Steinboden und blieb reglos liegen.

Arain hielt sich am Tisch fest. Ihre Hände zitterten. Ihr Gesicht war weiß wie Kalk. Ihr Atem beschleunigte sich, und sie hustete und schüttelte sich. Dann stolperte sie ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer. Ich hörte ein Pferd zum Tempel davongaloppieren.

Als Mera am nächsten Morgen erwachte, wußte sie nicht mehr genau, was geschehen war. Meine Gefühle zu Arain waren verwirrt. Ich verstand ihren Zorn, ich hielt ihn sogar für berechtigt. Aber wenn ich Mera betrachtete, ihren blau angelaufenen Kiefer und ihre geschwollene Wange und die dicke Zunge, dann wurde ich wütend auf Arain. Sie hatte nicht geweint. Sie hatte nicht gesagt, daß es ihr leid tat.

Dennoch, als ich Mera die Ereignisse dieses Abends berichtet hatte, sagte sie, daß ich meine Wut beherrschen sollte, denn wenn es je eine Zeit gegeben hatte, in der wir drei aufeinander angewiesen waren, dann wäre es diese. Denn was sie über die Nupaskans gesagt hatte, war wahr. Sie hatten eine viel größere Armee als wir ausgehoben, und ihr Ziel war es, den Tempel von Handred zu zerstören.

»Weil ich Arain liebe, will ich einen Kompromiß eingehen«, sagte Mera. »Ich will das Geheimnis des Buches noch ein wenig hüten, dich ausgenommen, Kirth.«

Dann enthüllte sie mir mit schwerer Zunge die Geschichte von Maknas Buch.

Arain hatte es in einem kleinen Anbau des Tempels zwischen den verwunschenen Hüllen uralter Geräte gefunden. Die Tür des Gebäudes war von Makna versiegelt worden, als sich der Lauf des Umbya verändert hatte; ohne Arains Wagemut wäre das Buch nie entdeckt worden.