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»Daddy?«

Ich öffnete die Augen und blickte über die Schulter in den Spiegel. Rae war wieder da und lächelte aus meinem Rücken.

»Es tut mir so leid, mein Liebling«, sagte ich.

»Uns auch«, antwortete sie, und im Spiegel schwebten Gesichter an ihr vorbei. Teenager, Kinder, Männer und Frauen, Babies, kleine Embryos, die um ihren Kopf wirbelten wie Planeten um die Sonne. Ich schloß die Augen wieder, aber ich konnte sie nicht geschlossen lassen. Als ich sie neuerlich öffnete, waren die zahllosen Toten und all jene, die nie die Chance gehabt hatten zu leben, fort. Nur Rae war da.

»Komm nahe an den Spiegel heran, Daddy.«

Ich ging rückwärts zum Spiegel. Ich schob mich an ihn heran, bis die heißen Wunden, die Raes Augen waren, das kalte Glas berührten, und die Wunden heißer und heißer wurden. Und Rae rief: »Laß mich Huckepack reiten, Daddy.« Dann spürte ich ihr Gewicht auf meinem Rücken, nicht das Gewicht eines Teenagers oder das Gewicht eines sechsjährigen Mädchens, sondern eine schwere Last, als liege die Welt auf meinen Schultern und drücke mich zu Boden.

Ich sprang vom Spiegel weg und hüpfte jubelnd im Raum herum, genau wie damals im Park. Ich lief im Kreis und warf dabei immer wieder einen Blick in den Spiegel. Rae saß schlank und nackt rittlings auf mir, und ihr rotes Haar flog um ihren Kopf, wenn ich mich drehte. Als ich wieder am Spiegel vorbeikam, sah ich, daß sie sechs Jahre alt war. Eine weitere Runde, und ich erblickte ein Skelett mit rotem Haar, das eine Hand erhoben hatte, dessen Kiefer offen standen und das schrie: »Treib sie weiter, Cowboy!«

»Wie?« stieß ich hervor, während ich weiter sprang und bockte und Rae den schönsten Ritt ihres Lebens schenkte. Sie beugte sich zu meinem Ohr, und ich spürte ihren warmen Atem. »Du willst wissen, wieso ich hier bin, Daddy? Ich bin hier, weil du mich geschaffen hast. Einmal lagst du zwischen Mutters Beinen, und ihr beide habt mich mit all der Liebe, die in euch war, ins Leben gestoßen. Diesmal hast du mich mit deinem Schuldbewußtsein und mit Mutters Haß ins Leben gestoßen. Ihre bohrenden Nadeln, dein gewölbter Rücken. Und jetzt bin ich zu einem letzten Ritt zurückgekommen, Daddy. Reite, du Schwein, reite!«

Ich hatte mich die ganze Zeit gedreht, und als ich jetzt in den Spiegel blickte, sah ich von einer Wand zur anderen Gesichter, die auftauchten und verschwanden, wie lächelnde Sterne. Und alle diese Lächeln wurden breit, und die Worte kamen im Chor: »Wo warst du, als sie die Große Bombe abwarfen?«

Jedesmal, wenn ich mich drehte und wieder in den Spiegel blickte, war es eine neue Szene. Heftige, brennende Winde versengten die Welt. Babies verwandelten sich in Fleischsülze, Haufen von verkohlten Knochen, Gehirne kochten aus den Köpfen von Männern und Frauen, aus den Ohren, dem Mund und den Augen wie aus verstopften WCs, die übergehen, der Allmächtige, Glory Halleluja, unsere ist größer als eure, die Bomben fallen, der Spiegel wird weiß wie ein Pilz, dann wieder hell. Ich drehe mich. Rae drückt sich in meinen Rücken und schmilzt wie Butter auf einem Rost, löst sich in den Augenwunden auf meinem Rücken auf, und schließlich bin ich allein und breche unter der Last der Welt auf dem Boden zusammen. Mary wachte nie mehr auf.

Die Ranken überlisteten mich.

Eine einzelne Ranke fand irgendwo unten eine Spalte, wand sich die Treppe herauf und glitt unter der Tür hindurch, die in den Turm führt. Marys Pritsche lag in der Nähe der Tür, und während ich nachts schlief, mich später vor dem Spiegel drehte und dann auf dem Boden lag, kroch die Ranke zu Marys Pritsche, zwischen ihre Beine und drang mühelos in sie ein.

Wahrscheinlich sollte ich anerkennen, daß der Ranke etwas gelungen ist, was ich seit Jahren nicht mehr geschafft habe, nämlich in Mary einzudringen, Tagebuch. O Gott, ist das komisch, Tagebuch, wirklich komisch. Ein weiterer kleiner Wissenschaftlerwitz. Wollen wir sagen, daß es ein verrückter Wissenschaftlerwitz ist? Denn nur ein Verrückter würde mit Menschenleben spielen, indem er ständig versucht, eine noch größere und bessere Todesmaschine zu erzeugen.

Du fragst, was aus Rae geworden ist?

Ich werde es dir sagen. Sie befindet sich in mir. Mein Rücken spürt die Last. Sie dreht sich in meinen Eingeweiden wie ein Korkenzieher. Ich habe vor einem Augenblick in den Spiegel geschaut; die Tätowierung sieht nicht mehr aus wie vorher. Die Augen haben sich in verkrustete Wunden verwandelt, und das Gesicht scheint mit Schorf bedeckt zu sein. Es ist, als hätten die Bitterkeit, die meine Seele ausmachte, die Gedankenlosigkeit, die Kurzsichtigkeit, das Schuldbewußtsein innerlich geschwärt und das Bild mit Pusteln, Knoten und Grind verunstaltet.

Um es laienhaft auszudrücken, Tagebuch, mein Rücken ist infiziert. Infiziert mit dem, was ich bin. Ein blinder, vernunftloser Narr.

Die Frau?

Ach, die Frau. Mein Gott, wie habe ich diese Frau geliebt. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr richtig berührt, nur die wunderbaren Hände auf meinem Rücken gespürt, wenn sie die Nadeln in das Fleisch trieb, aber ich habe nie aufgehört, sie zu lieben. Es war keine Liebe mehr, die glühte, aber sie war immer noch vorhanden, obwohl ihre Liebe zu mir längst erloschen war.

Als ich heute morgen vom Fußboden aufstand und Raes Gewicht und die Last der Welt auf meinen Schultern spürte, erblickte ich die Ranke, die unter der Tür hervorkam und sich nach mir streckte. Ich schrie ihren Namen. Sie rührte sich nicht. Ich lief zu ihr und sah, daß es zu spät war. Bevor ich nach ihr greifen konnte, kräuselte sich ihr Fleisch und bildete Höcker als wuselte eine Mäuseschar unter einer Bettdecke. Die Ranken waren am Werk.

Ich konnte nichts für sie tun.

Aus einem Stuhlbein und einer alten Decke fertigte ich eine Fackel an, setzte sie in Brand, verbrannte die Ranke zwischen ihren Beinen, sah zu, wie sie rauchend unter der Tür hinauskroch. Dann holte ich ein Brett, nagelte es unten an die Tür und hoffte, daß es die anderen wenigstens eine Zeitlang fernhalten wird. Ich habe eine der zwölfkalibrigen Flinten geholt und geladen. Sie liegt neben mir auf dem Schreibtisch, aber sogar ich weiß, daß ich sie nie benutzen werde. Ich wollte einfach etwas tun, wie Jacob sagte, als er den Wal tötete und aß. Etwas tun.

Ich kann kaum noch schreiben, weil mein Rücken und meine Schultern so fürchterlich schmerzen. Raes Gewicht und die Last der Welt sind schuld daran.

Ich bin gerade vom Spiegel zurückgekommen; von der Tätowierung ist kaum etwas übrig. Nur noch ein wenig blaue und schwarze Tinte, ein Hauch von Rot, der einmal Raes Haar war. Es sieht jetzt wie ein abstraktes Gemälde aus. Die Zeichnung ist zerstört, die Farben verrinnen. Der Rücken ist stark geschwollen. Ich sehe aus wie der Glöckner von Notre Dame.

Was ich tun werde, Tagebuch?

Wie immer bin ich froh, daß du diese Frage stellst. Ich habe mir nämlich folgendes ausgedacht.

Ich könnte Marys Körper über das Geländer werfen, bevor er erblüht. Das könnte ich tun. Dann könnte ich meinen Rücken behandeln. Vielleicht würde er sogar heilen, obwohl ich es bezweifle. Rae würde es nicht zulassen, das weiß ich jetzt schon. Und ich nehme es ihr nicht übel. Ich stehe auf ihrer Seite. Ich bin nur ein lebender Toter, aber das bin ich seit Jahren gewesen.

Ich könnte mir das Gewehr ans Kinn setzen und den Abzug mit der Zehe betätigen, oder ihn mit der Feder zurückschieben, mit der ich in dich schreibe, Tagebuch. Das wäre doch etwas. Mein Gehirn würde an die Decke fliegen, und ich würde dich mit meinem Blut bespritzen.

Aber, wie gesagt, ich habe das Gewehr nur geladen, um etwas zu tun. Ich würde es nie gegen Mary oder mich verwenden.

Ich brauche nämlich Mary, ich möchte, daß sie Rae und mich zum letzten Mal so umarmt, wie sie es im Park getan hat. Sie kann es. Es gibt einen Weg.

Ich habe alle Vorhänge zugezogen und für die Stellen, wo es keine gibt, Decken als Vorhänge verwendet. Die Sonne wird bald aufgehen, und ich will dieses Licht nicht hier drinnen haben. Ich schreibe bei einer Kerze, die den ganzen Raum in warmes Licht taucht. Ich hätte gern etwas Wein. Ich möchte, daß die Atmosphäre stimmt.