Mary beginnt auf ihrer Pritsche zu zucken. Ihr Hals ist an der Stelle geschwollen, an der sich die Ranken stauen, während sie sich zu ihrem Lieblingsfutter, dem Gehirn, drängen. Bald wird die Rose erblühen (ich hoffe, daß es eine gelbe ist; gelb war ihre Lieblingsfarbe und hat ihr gut gestanden), und Mary wird mich holen.
Wenn sie es tut, werde ich ihr den nackten Rücken zudrehen. Die Ranken werden herausschnellen und sich in meinem Fleisch verhaken, bevor Mary mich erreicht, aber das kann ich ertragen. Ich bin Schmerzen gewöhnt. Ich werde mir einreden, daß die Dornen Marys Nadeln sind. Ich werde stehenbleiben, bis sie ihre Arme um mich schlingt und ihr Körper sich an die Wunde preßt, die sie in meinen Rücken gemacht hat, die Wunde, die ihre Tochter Rae ist. Sie wird mich umschlingen, damit die Ranken und der Rüssel ans Werk gehen können. Und während sie mich hält, werde ich ihre schönen Hände erfassen und sie auf meine Brust drücken, und wir drei werden es wieder mit der Welt aufnehmen. Ich werde die Augen schließen und zum letzten Mal voll Entzücken ihre schönen, weichen Hände spüren.
Originaltiteclass="underline" ›Tight Little Stitches in a Dead Man’s Back‹
Copyright © 1986 by Joe Lansdale
(erstmals erschienen in der Anthologie ›Nukes‹, hrsg. von J. Maclay & Ass., Baltimore)
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hilde Linnert
Illustriert von John Stewart
James Patrick Kelly
Fluchtwege
Morris Knox wischte den Boden der Toilette, als er vom nahen Aufzugsschacht das Knarren eiserner Stränge vernahm. Zunächst schenkte der alte Mann diesem Geräusch überhaupt keine Beachtung. In Gedanken weilte er längst nicht mehr im antiseptischen Waschraum.
Er zuckte jedoch zusammen, als er das leise Läuten aus dem Foyer hörte. Erschrocken warf er einen Blick auf die Uhr und eilte dann der Besucherin entgegen: Madeline, die Instandhaltungs-Aufseherin für diese Einheit. Sie lehnte an der Tür des Lifts, und während sie ihn beobachtete, zeigte sich jene Ungeduld in ihren Zügen, die Mütter zu langsamen Kindern entgegenbringen. Knox kannte diesen Ausdruck bereits und verabscheute ihn. Er war zweiunddreißig Jahre älter als Madeline Bianchi.
»Sie sind noch immer hier?«
»Ich bin fertig«, sagte er.
»Beeilen Sie sich, Knox! Sie beeinträchtigen das Arbeitsergebnis unserer Einheit.«
Er zuckte die Achseln.
»Ich übergebe Mildred die sechsundzwanzig«, meinte Madeline und hatte es offenbar satt. »Kommen Sie in mein Büro, wenn Sie hier fertig sind.« Sie betrat die Aufzugskabine, und hinter ihr schloß sich die Tür.
»Ich bin fertig«, versicherte Knox dem stummen Stahl. Er schüttelte den Kopf und kehrte in den Waschraum zurück.
Morris Knox war ein kleiner und drahtiger Mann, der gerade erst den Wettlauf mit der Zeit verloren hatte. Er bewegte sich noch immer mit einem Rest der alten und nervösen Energie, die ihn einst ausgezeichnet hatte, humpelte jedoch leicht aufgrund der Beinprothese, die nicht perfekt angepaßt worden war. Seine Züge standen im Widerspruch zum oft zitternden Körper: Sie bildeten eine bewegungslose Maske, offenbarten nicht die geringste Regung.
Im Jahre 1985 hatte Knox & Co. von der Umweltschutzbehörde den Auftrag erhalten, die Jahrhunderttürme zu konzipieren. Es handelte sich dabei um den Prototyp einer Forschungsgemeinschaft, und Morris Knox ernannte sich selbst zum Projektarchitekten. Als er zusammen mit seiner Familie während der Krebs-Unruhen acht Jahre später in dem abgeschlossenen und autonomen Komplex Zuflucht suchte, wurde er zum ersten Instandhaltungs-Aufseher. Jetzt wurden seine Fähigkeiten, Entwürfe anzufertigen, nicht mehr gebraucht. In der letzten Zeit bestand sein Beitrag für die Gemeinschaft der Türme darin, Blumen zu begießen und dort Ordnung zu schaffen, wo sich Kinder und Jugendliche ausgetobt hatten.
Er schob den Reinigungswagen in den Lift und ließ sich zur zweiundzwanzigsten Etage hinabtragen. Dort verstaute er sein Arbeitszeug und wechselte die Kleidung.
Madelines Büro war einst seins gewesen, doch jetzt erkannte er es kaum wieder. An den kalkweißen Wänden hingen keine Bilder mehr, und der große Schreibtisch diente nicht mehr als Unterlage für ein Chaos aus Papieren und Dokumenten. Wie viele andere, die in den Türmen aufgewachsen waren, konnte Madeline Schmutz und Unordnung nicht ausstehen. Sie pflegte sich gewissenhaft: Ihr kastanienbraunes Haar war kurzgeschnitten, und sie erweckte ständig den Eindruck, als habe sie sich gerade das Gesicht gewaschen. Nicht einmal ihr Arbeitskombi wies irgendwelche Flecken auf. Das ärgerte Knox. Arbeit war schmutzig, meinte er, und somit gehörte es sich auch, daß Arbeiter schmutzig wurden. Aber Madeline hatte schon immer ausgezeichnete Leistungen vollbracht und gab jetzt auch eine gute Aufseherin ab. Insgeheim war Knox stolz auf ihre Fähigkeiten, denn schließlich hatte er sie ausgebildet.
Er nahm auf einem Stuhl Platz, und Madeline griff nach einem Speicherchip und schob ihn in den Computer. Kurz darauf begann der Drucker zu summen, und eine beschriftete Folie glitt aus dem Ausgabeschlitz. Madeline reichte sie ihm.
Es handelte sich um ein Memo von Roberts aus der Abteilung für Arbeitskraft-Verwaltung. Er lobte Knox wegen seiner langen und aufopferungsvollen Tätigkeit für die Gemeinschaft. Er teilte ihm mit, es sei unfair, daß ein Mann im Alter Knox’ – noch dazu jemand, der sich solche Verdienste erworben hatte – den ganzen Tag mit der Verrichtung primitiver Arbeiten verbringen müsse. Deshalb, so hieß es weiter, freue sich die Arbeitskraft-Verwaltung, seine Quote auf anderthalb Schichten zu reduzieren, auf vier Stunden pro Tag. Natürlich gehe damit eine Neueinstufung seines Status einher, denn immerhin verfüge er dadurch nicht mehr über das Minimum an Arbeitskrediten, das für eine private Kabine erforderlich sei. Aus diesem Grund wurde er höflich darum gebeten, seine Habe in das geriatrische Wohnheim zu bringen, zu einem Zeitpunkt, auf den er sich mit seiner Vorgesetzten einigen müsse.
Knox kannte einen Trick, um emotionalen Schmerz zu vermeiden. Er stellte sich in einer sicheren Zukunft vor, in der Begleitung von guten Freunden. Anschließend betrachtete er schwierige Augenblicke in der Gegenwart aus jener Perspektive, so als seien sie nur Erinnerungen, Anekdoten, die ihm das mitfühlende Lächeln seiner Begleiter einbrachten. Knox schloß die Augen, doch diesmal versuchte er vergeblich, jene Vision zu beschwören.
Er fürchtete sich vor dem geriatrischen Wohnheim. Er kannte viele Leute, die dort untergekommen waren und deren natürlicher Lebensrhythmus sich völlig verändert hatte. Die Betreffenden existierten nur noch für ihre jeweiligen Vergangenheiten, hatten die Zukunft aufgegeben. Morris Knox war noch nicht bereit, an den Tod zu denken. Er folgte noch immer dem Verlauf der Straße des Lebens, hielt weiterhin auf ein fernes Ziel zu – auch wenn er nicht wußte, worin das bestand.
Madeline sprach zu ihm. »…muß ich Ihnen eingestehen, daß ich es war, die um eine Reduzierung Ihrer Quote bat. Aber so etwas lag nicht in meiner Absicht. Man behandelt Sie ziemlich mies.«
»Danke.«
Sie biß sich auf die Lippe und errötete. »Ich mußte an die Einheit denken. In diesem Jahr bekam niemand von uns Bonuszeit. Wegen Ihnen. Sie wissen, daß das stimmt. Sie machen sich nichts vor. Als Sie noch meinen Platz einnahmen, haben Sie die gleiche verdammte Sache mit Jimmy Packer gemacht.«