Es ist kein gewöhnliches Buch aus Papier, denn dann wäre es wegen seines großen Alters schon lange zu Staub zerfallen. Es besteht aus einem geheimnisvollen Metall, das nicht rostet. Es ist zu dünnen Platten gepreßt und mit einem unbekannten Stift beschriftet. Seltsam sind diese Worte, die in der Sprache der Alten geschrieben sind. Seltsamer noch ist die Geschichte, die sie erzählen, verworren und voller Namen, die uns nichts bedeuten.
Meine Schwestern hatten die Entschlüsselung des Buches noch nicht abgeschlossen. Die Übersetzung war schwierig, denn einige Seiten waren beschädigt, andere fehlten ganz! Aber einige Dinge waren bereits klar. Mera hatte recht. Wenn Hald das Buch und seinen Inhalt gekannt hätte, dann hätte man ihn leicht überzeugen können, nicht zum Dred zu gehen.
Bevor ich sie an diesem Morgen verließ, nahm Mera meine Hand und sagte: »Das sind schwarze Gedanken, Kirth, aber ich kann sie nicht ignorieren, wie Arain es tut. Wenn Handred die Nupaskans nicht aufhalten kann, dann wird Radna ins Tageslicht freigelassen; Arain und ich werden die ersten sein, die sterben werden, entweder durch die Hand der Nupaskans oder durch Radnas Hand. Wenn du uns je geliebt hast, mußt du mir eins versprechen.«
»Was denn?« fragte ich.
»Daß du das Geheimnis des Buches nicht mit uns sterben läßt.«
Ich dachte an den Eid, den ich vor langer Zeit geschworen hatte, als ich vom gefährlichen Weg meiner Schwestern erfahren hatte. Ich hatte geschworen, ihnen zu folgen, wenn sie starben. Ich hatte den Schwur aus guten Gründen geleistet, so selbstsüchtig er auch gewesen sein mochte, und ich konnte mich noch nicht überwinden, ihn zu brechen. Also weigerte ich mich, es ihr zu versprechen. Es war dumm und grausam von mir.
Mein Freund, der große Makna hat gesagt, daß Radna vor der Großen Dürre in der Zeit des Überflusses von den Alten geschaffen wurde. Sie wußten um die Gefahr dieses Dings, das sie geschaffen hatten; sie wußten, daß man es nicht zerstören konnte. Feder befahl, daß die Tempel erbaut würden. Er befahl, Radna in kleine Stücke zu zerteilen und in Glaskugeln einzuschließen. Diese heiligen Gefäße wurden tief in massivem Stein vergraben. Aber als die Dürre kam, ging Feder fort und ließ nur seinen Helfer Makna zurück. Makna half uns, nicht zu vergessen, daß wir diesen Tempel ewig bewachen müssen, damit Radna uns nicht verbrennen kann.
In der Sprache der Unsterblichen schrieb Makna: »Gott helfe unseren Kindern, wenn die Anlagen in Hanford und Paradox Basin je verfallen, denn nach menschlichen Maßstäben wird dieses Material für ewige Zeiten tödlich bleiben. Sie werden bis dahin vielleicht nicht einmal mehr wissen, was es ist.«
In den folgenden Monaten sah ich Arain und Mera nur noch selten. Arain war mit der Übersetzung des Buches beschäftigt. Sie arbeitete wie eine Besessene und legte es nur beiseite, wenn die Angelegenheiten des Tempels ihre Aufmerksamkeit erforderten, oder wenn sie zu krank war, um etwas anderes zu tun als zu schlafen. Während dieser Zeit besuchten Mera und ich sie zweimal in ihrem schrecklichen Quartier im Tempel.
Wir blieben nicht lange, denn Arain legte ihre Arbeit nur ungern fort. Einmal, als wir es nicht erwarteten, stand sie auf und ging mit uns durch die großen Kupfertüren in den Tempelhof. Dort im Sonnenlicht sah ich, wie sehr sich Arain verändert hatte. Es war nicht mehr schwer, meine Schwestern auseinanderzuhalten. Arains wunderschönes Gesicht war zerstört und faltig, und ihre Augen waren fast blind. Sie ging wie eine alte Frau, die des Lebens müde ist. Im Hof richtete sie sich stolz auf und fragte mich, ob ich ihr die Ehre erweisen würde, ihre Begräbnisurne zu entwerfen. Mera wandte sich ab und senkte den Kopf, damit wir ihre Tränen nicht sahen.
Auch Mera war in diesen letzten Monaten sehr beschäftigt. Am alten Lauf des Umbya im offenen Land gab es immer wieder Überfälle. Wir hörten, daß ein neuer und kriegslüsterner Anführer an die Spitze der Nupaskans aufgestiegen sei. Sie sangen wieder das alte Rachelied, in dem es hieß, Handred müßte leiden, da es das rechtmäßige Eigentum der Nupaskans beschädigt habe – das Land am Dred. Es gab viele kleine Gefechte, und die Armeen von Handred verloren an Boden. Dann, am Ende des Sommers, erfuhren Meras Spione, daß die Nupaskans ihre Kräfte auf der anderen Seite des Umbya zusammengezogen hätten, um einen Angriff auf den Tempel vorzubereiten.
Ich weiß nicht, was daraufhin zwischen meinen Schwestern vorging. Vielleicht versuchte Mera, den Nupaskans vom Buch zu erzählen; ich wußte, daß dies ihr Plan war, und sie wollte es auch gegen Arains Willen versuchen. Vielleicht hatte sie am Ende doch recht, denn die Nupaskans griffen an.
In den nächsten Tagen eilten Boten zwischen der Stadt und der Armee hin und her, während sich die Bürger von Handred nach Kräften auf eine Belagerung einrichteten. Sie ernteten die Felder ab, verstärkten den Schutzwall, der die Stadt umgab, machten Pfeile und Speere und bereiteten Fässer mit heißem Öl vor, damit wir es auf die Feinde hinuntergießen konnten.
Zuerst frohlockten die Boten: Mera warf die Nupaskans zurück. Dann, am zweiten Tag, kam ein atemloser, blutender Bote. Es hatte einen Rückschlag gegeben. Ich saß in dieser Nacht auf dem Wall und blickte nach Südosten, wo der aufgehende Mond tiefrot im Himmel hing und die Fackeln der Armeen flackerten. Und ich dachte an meine Schwestern und wünschte, ich wäre nicht einer von denen, die zurückgelassen wurden, um die Stadt zu beschützen.
Am dritten Tag kam ein Bote mit angstgeweiteten Augen. »Die Nupaskans sind im Tempel!« rief er. Dann machte mein Herz einen Satz wie ein Hirsch, der um sein Leben springt, und ich rannte auf den Wall und erwartete, den rollenden Staub der anrückenden Nupask-Armee auf der Straße zu sehen. Statt dessen sah ich, daß sich der Staub nach der Schlacht schon wieder legte. Die Stille des Untergangs senkte sich über das Land.
Eine Stunde später wurden die Tore geöffnet, und der Reiter kam in die Stadt.
Sein Pferd war halb von Sinnen, vor seinem Maul stand blutiger Schaum. Obwohl der Reiter keine Wunden hatte, war er fast tot. Er war mit einem Seil an sein Roß gebunden. Auf dem Hals des Pferdes klebte das blutige Erbrochene des Mannes. Er wand sich und rülpste, als wir ihn aus dem Sattel hoben. An seiner Brust hing ein Bündel, auf dem mein Name stand.
Es war das Buch. Auf ein Stück blutverschmiertes Tuch hatte Mera eine Botschaft geschrieben.
»Unser Bruder, ein Freund schreibt dies. Arain ist tot. Ich werde bald bei ihr sein. Die Erde hat sich geöffnet. Im Namen von Feder, bring das Buch nach Paradox. Warne sie vor Radna. Willst du es mir jetzt versprechen?«
Wie bedauerte ich, daß ich Mera mein Versprechen nicht früher gegeben hatte. Welcher Trost wäre es ihr in ihren letzten Stunden gewesen. Aber das sind jetzt leere Worte. Einen solchen Fehler kann man nicht ungeschehen machen, aber ich tat, was sie verlangte. Ich rannte fort und überließ meine Schwestern und das Land, in dem ich geboren wurde, dem Totengräber. Es nützte nichts, denn nun werde ich mich zu ihnen gesellen. Ich bin nicht schnell genug gerannt.
Mit der Botschaft eingerollt waren zwei Locken von strahlend weißem Haar, ganz ähnlich wie Sonnenstrahlen. Ich weinte. So verbittert war ich, daß ich Feder verfluchte. Ich opferte das Haar meiner Schwestern nicht, denn es würde keine Kinder mehr in Handred geben.
Ich will dir den Tag des Untergangs beschreiben, mein Freund. Ich sehe es jetzt vor meinem inneren Auge, als stünde ich wieder am Ufer des Umbya. Keine Vögel fliegen dort, nicht einmal Geier. Nur der Geruch des Todes ist allgegenwärtig. Die Tiere, die im Gras lebten, regen sich nicht mehr. Bäume stehen am Fluß, an den Straßen, in den Höfen, wo wir zur Musik der Fontänen lachten. Aber alle Blätter sind stumpf und am Ast vertrocknet. Sie rascheln im Wind. In meiner Werkstatt stehen Schalen, die nie in den Brennofen kommen werden; der Lehm in den Vorratstöpfen ist vertrocknet. Männer liegen tot neben ihren Pflügen, Frauen neben ihren Kindern. Meine Schwestern liegen unbestattet in der Sonne. Nie wieder werden wir zufrieden am Feuer sitzen. In einem großen Umkreis, eine Monatsreise von einer Seite zur anderen, ist nichts mehr am Leben. Das Leben wurde von Radna verschlungen, dem dunklen Wesen, dem Gift der Götter, der Plage der Alten. Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig.