Ich habe dein Land gesehen, mein Freund. Dein Volk ist stark und aufrecht. Vor allen Türen spielen Kinder, und alte Männer sitzen in der Sonne. Aber ich sage dir, sieh mich an und siehe, was du werden kannst. Siehe ein geschrumpftes Wesen, bleich und hinfällig, mit stinkenden Schwären, geschwächt und fast zu ängstlich, um vor die Götter zu treten. Und dann denke an den Tempel von Paradox.
Nimm das Buch, Freund. Ich weiß keinen besseren Weg, dir deine Freundlichkeit zu vergelten. Behalte es. Bringe es nicht durcheinander. Und erinnere dich an meine Geschichte. Vielleicht wirst du eines Morgens nach der Straße nach Paradox fragen.
Es ist so kalt heute.
Originaltiteclass="underline" ›The River Temple‹
Copyright © 1986 by Mercury Press, Inc.
(erstmals erschienen in ›The Magazine of Fantasy & Science Fiction‹, Juli 1986)
mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Agentur Luserke, Friolzheim
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Langowski
Illustriert von Klaus Porschka
Ron Montana
Der letzte Picasso
Der alte Mann wirkte zugleich gebeugt und groß. Er trug das Fell eines schon lange toten Tieres, das mit den Jahren unter der Sonne braun geworden war wie seine Haut. Sein langes, buschiges Haar war mit grauen Knoten durchsetzt und verschmolz übergangslos mit dem Vollbart, der bis zur Brust hinabreichte. Um Füße und Waden hatte er sich dunkle, ungegerbte Felle von kleineren Tieren gewunden. In der rechten Hand hielt er einen Bogen, den er aus der Federung eines Autos gemacht hatte; das Metall war geglättet, nachdem er es unzählige Male in der Hand gehalten hatte.
Es war früh am Morgen, die Sonne hing rot und dunstig über dem Horizont. In zwei Tagen hatte er Geburtstag. Er besaß keinen Kalender und keine Uhr, doch er wußte es, und er seufzte, als er den Hügel hinaufstieg zur Mündung der Höhle, in der er lebte.
Die Höhle war ein dunkles Loch in der Hügelflanke, vor Wind und Wetter durch eine Gruppe hoher Pappeln geschützt. Sie war groß genug, um ein Feldbett, das mit Fellen bedeckt war, um ein Bücherregal aus grob behauenen Stämmen aufzunehmen. Er hatte viele Bücher, doch sie waren schmutzig und vergilbt, und er hatte sie schon lange nicht mehr in die Hand genommen. Der alte Mann hatte nicht mehr das Bedürfnis zu lesen. Die bunten Einbände hatten mit der Zeit eine trübe Patina angesetzt; sie waren ihm fremd geworden, und vielleicht würde er sie dann verbrennen, wenn die Regenzeit kam und das Holz zu feucht war, um ihn zu wärmen.
Er legte die Beute des Morgens, ein mageres Kaninchen, auf den flachen Stein neben der Feuergrube und begann seine Mahlzeit vorzubereiten. Während er das verfilzte Fell abzog, fiel ihm ein, daß dies für die nächsten zwei Tage sein letztes Essen sein würde. Wenn das Ereignis so nahe war, konnte er sich nicht mehr zum Essen überwinden. Danach würde er wieder jagen und sich vollstopfen, vielleicht einen kleinen Hirsch oder ein Wildschwein, doch jetzt hatte er keinen Appetit, und er zwang sich, mechanisch das zähe Fleisch hinunterzuschlingen, damit er nicht vor dem Ereignis krank würde.
Als der alte Mann sein Frühstück beendet hatte, legte er die Hände in den Schoß und wartete. Es war fast Zeit zu beginnen, doch er wollte es nicht überstürzen. Nach zwanzig Jahren war das Ereignis ein heiliges Ritual geworden, und er mußte dem Plan entsprechend vorgehen. Er bekam Angst, daß etwas nicht funktionieren könnte, und er versuchte, die Furcht zu verdrängen, indem er an etwas anderes dachte, doch es hatte keinen Zweck. Es hatte nur zweimal Probleme gegeben, und beide Male hatte er sie mühelos beheben können. Doch wenn etwas wirklich Wichtiges schiefging, konnte er sich vielleicht nicht mehr an die notwendigen Schritte erinnern, und das machte ihm angst. Aber, dachte er, es würde schon reichen, es nur wieder anzusehen. Eines Tages würde das alles sein, was ihm noch blieb, und er wußte, daß er sich auf diese Möglichkeit einrichten mußte.
Er verwarf die Zweifel, stand auf, und verließ die Höhle. Als der alte Mann den baumbeschatteten Pfad zur Straße hinuntertrabte, brach die Sonne durch die schmutziggraue Wolkendecke. Er blieb mitten auf der Straße stehen, die einmal der Highway 17 gewesen war, blickte in beide Richtungen und suchte sie nach Hindernissen ab. Der Wind blies scharf durch das Tal und hielt die Straße einigermaßen frei. Die Baumlinie war so weit entfernt, daß umgestürzte Bäume kein Problem waren. Nach all den Jahren war es immer noch möglich.
Er nickte und ging mitten auf der Straße. Er ging zuerst sehr langsam, fast humpelnd unter dem Gewicht des Alters, das er auf den eingesunkenen Schultern trug. Als er sich seinem Ziel näherte, begann er schneller zu gehen, die Vorfreude kitzelte seine Fußsohlen.
An der Stelle, an der die unbefestigte Nebenstraße nach links in die Hügel abzweigte, mußte er stehenbleiben und ein wucherndes Gebüsch abschlagen, das fast so groß war wie er. Seine Messerklinge grub sich in die Wurzeln, und er wurde wütend, als er die widerspenstigen Zweige heftig aus dem harten Boden riß. Er sollte eigentlich nicht wütend werden, denn er hatte diese Aufgabe jedes Jahr zu erledigen, und inzwischen sollte er sie als Routine betrachten können. Vielleicht sollte er dieses Mal in die alte Scheune gehen und ein Entlaubungsmittel suchen. Ja, das würde er tun; doch er hatte das Gefühl, daß er im nächsten Jahr vor den Büschen zurückweichen würde, wenn sie dann immer noch lebten. Sie waren wichtig. Sie verschafften ihm eine Pause, und der Gedanke, nach so langer Zeit etwas zu verändern, beschämte ihn. Seine Hände zitterten, als er den letzten Busch von der Straße zerrte.
Als er das Unkraut beseitigt hatte, ging er die Seitenstraße hinauf; unterwegs klaubte er umsichtig kleine Steine vom rissigen Weg und warf sie zwischen die Bäume, die neben ihm den Hügel hinaufmarschierten. Es war anstrengend, die vielen Steine wegzuwerfen, und es kostete ihn wertvolle Zeit, doch er ging seiner Aufgabe abwesend nach, ohne die Steine wirklich zu sehen. Als er endlich die Hügelkuppe erreichte, keuchte er. Er starrte zur Lichtung hinunter und konnte sich nicht erinnern, ob er im letzten Jahr genauso erschöpft gewesen war, und das machte ihm Sorgen. Was, wenn er nicht mehr genug Kraft dazu hatte? Der Gedanke verließ sein Bewußtsein wie ein flatternder Schmetterling, als er die Lichtung betrachtete.
Das Haupthaus war fast verschwunden, es war von der zerstörten Veranda bis zum fehlenden Dach von Moos und Gräsern bedeckt. Es war kaum mehr als ein Schatten im Unterholz, und wenn er nicht so lange darin gewohnt hätte, dann hätte er es nicht mehr als Haus erkannt. Er ließ die Schultern sinken und starrte die Ruine lange an. Die Erinnerung schmerzte ihn, doch der Schmerz war ihm nicht neu, und er sah keinen Grund, warum es dieses Jahr hätte anders sein sollen.
Die Erinnerungen waren verschwommen und stumpf, doch er wußte noch, wie er vor genau zwanzig Jahren an dieser Stelle gestanden und zugesehen hatte, wie das Haus niederbrannte. Es waren Menschen im Haus gewesen, und der alte Mann konnte noch ihre leisen Schreie über dem Tosen der Flammen hören und die leichte Brise, die in den Wipfeln der hohen Bäume rauschte. Er müßte sich an ihre Namen erinnern. Doch diese Menschen, seine Familie, waren unter alten, verdrängten Erinnerungen begraben, und er machte sich nicht die Mühe, sie aus den Tiefen seines Bewußtseins heraufzubeschwören.