Kim Stanley Robinson
Die wahre Natur von Shangi-La
In Nepal heißt es, ein früher Monsun bringe Glück, doch offensichtlich ist das so gelogen, daß sich die Balken biegen. Wenn Sie mich fragen, ist das einzige, was ein früher Monsun bringt, mehr Regen als üblich im Spätfrühling und Frühsommer. Nehmen Sie zum Beispiel das Jahr 1987, als der Monsun im Mai kam. In diesem Jahr gab es große Probleme für einen Ort, den Sie wahrscheinlich als Shangri-La kennen. Nun ist Shangri-La nicht der echte Name des Tals; so hieß es nur in einem Film, und die Produzenten müssen sich verhört haben, weil der echte Name Shambhala lautet. Shambhala ist die verborgene Stadt Tibets, die Heimat der ältesten Weisheit der Welt und die geheime, geheiligte Hochburg des tibetanischen Buddhismus. Eigentlich sogar der Ursprung aller Religionen der Welt. Ich habe dort eine beträchtliche Weile mit meinem Lehrer Kunga Norbu Rim-poche verbracht, und als Kunga nach Katmandu hinabstieg, um mir zu sagen, daß Shambala in Schwierigkeiten sei, wußte ich, daß es meine Pflicht war, ihm auf jede nur erdenkliche Art und Weise zu helfen.
Anscheinend hatte sich die Nachricht verbreitet, daß die Nepalesen planten, eine ihrer Hügelstraßen zu einem Gebirgsdorf auszuweiten, das Shambhala so nahe lag, daß die Straße eine ernsthafte Gefahr darstellte. Sie würde so viele Menschen in die Gegend bringen, daß das Geheimnis schließlich herauskommen würde, und das wäre dann das Ende des heiligen Tals.
Sobald Kunga Norbu die Natur des Problems erklärt hatte, wußte ich, daß mein Kumpel George Fergusson die Antwort war. George ist ein As in der Kunst, sich den Weg durch die nepalesische Bürokratie zu schmieren, um das zu bekommen, was er für seine Trekking-Unternehmungen brauchte, und so nahm ich an, daß er auch für unsere Belange ein Experte war.
Doch als ich Kunga Norbu in dem tibetanischen Camp in Patan verließ und zum Hotel Star zurückkehrte, um George darauf anzusprechen, zögerte er. »Nichts da«, sagte er. »Keine Chance. Du und dein Guru, ihr habt mich beinahe umgebracht.«
»Ach, komm schon«, sagte ich. »Wir müssen doch nur ein kleines Straßenprojekt aufhalten.«
»Kommt nicht in Frage, Freds! Ich muß mich hier die ganze Zeit über mit den Bürokraten herumschlagen; warum sollte ich mich freiwillig weiteren derartigen Schwierigkeiten aussetzen?«
»Genau das ist es doch, George. Wir brauchen einen Experten. Und hör mal, es steckt mehr dahinter, als ich dir sagen kann. Du weißt schon, mystische Gründe.«
George runzelte die Stirn, »jetzt versuche nicht wieder, mich in irgend etwas hinein zu ziehen, Freds«, sagte er.
»Komm schon«, sagte ich.
»Auf keinen Fall.«
Es stellte sich heraus, daß er wegen irgendeiner Sache, die er in The International Herald Tribüne gelesen hatte, so mieser Laune war. Da lag er nun in seinem Liegestuhl auf der Sonnenterrasse über dem Dach der Lobby des Hotels Star, ließ sich von der Morgensonne braten, war stoned, aß Nebico-Waffeln, trank ein Budweiser, plauderte gelegentlich mit zwei dänischen Schnecken in Bikinis und las seine eine Woche alte Trebbie; es hätte für ihn Katmandu im Monsun-Himmel sein können, doch er saß wegen eines Artikels, den er gerade gelesen hatte, ganz niedergeschlagen da. Er blätterte die Seiten durch, um ihn mir zu zeigen. »Siehst du das? Kannst du dir das vorstellen? Ein paar Jungs von der University of Washington haben einen Satelliten benutzt und verdammt nochmal festgestellt, daß der K2 höher ist als der Everest.«
»Ich hätte gedacht, von einem Satelliten aus kann man das nur schwer abschätzen.«
»Der K2 soll jetzt 8858 Meter hoch sein, während die offizielle Höhe des Everest noch mit 8848 Metern angegeben wird. Kannst du dir das vorstellen?« Er war wirklich bedrückt. »Ich meine, die ganzen Expeditionen zum Everest, all die heldenhaften Besteigungen und die Leute, die dabei umkamen … und das alles nur für den zweithöchsten Berg? Das hältst du doch im Kopf nicht aus, Mann. Das ist schrecklich.«
»Besonders, da du jetzt selbst zu den irregeführten Kletterern gehörst, die alles für die Nummer Zwei riskiert haben«, sagte ich.
»Sei nicht so laut«, sagte er und sah sich um. »Aber klar, daß ich enttäuscht bin. Bist du das nicht auch?«
»Wir mußten deinen Arsch diesen Berg hinaufschleppen, George. Du hast es geradezu gehaßt.«
»Na klar hab’ ich das. Ihr habt es unglaublich dumm angefangen, ohne Unterstützung, ohne Plan. Aber weißt du, wir haben es geschafft, und nur darauf kam es schließlich an. Wir haben den Riesen bezwungen.«
»Wir können dich jederzeit den K2 hochschleppen.«
Keine Antwort von George.
»Ja, genau«, sagte ich, die kleinste Chance nutzend. »Kunga Norbu muß ihn vielleicht besteigen, um die von Dorjee Lama gestellte Aufgabe zu erfüllen. Und seine Gefährten wären natürlich mystisch verpflichtet, ihn zu begleiten.«
»Ha«, sagte George, und die Falte zwischen seinen Augen wurde tiefer.
»Und du weißt ja, daß Kunga unter anderem die Kraft hat, die Leute dazu zu bringen, das zu tun, was er will. Wie damals, als er dich überzeugt hat, den Gipfel des Chomolungma zu besteigen.«
Er runzelte die Stirn. »Erzähl ihm ja nichts über diese neuen Berechnungen.«
»Eigentlich habe ich gar nicht die Zeit, ihm davon zu erzählen. Denn da ist ja diese andere Sache, bei der wir deine Hilfe brauchen. Deine Hilfe hier in Katmandu. Du mußt in deiner Freizeit nur ein paar Regierungsämter abklappern. Während des Monsuns, wo du sowieso nichts zu tun hast und bald vor Langeweile eingehst.«
»Na schön.« Er seufzte. »Wie sieht euer großes Problem also aus?«
»Sie bauen eine Straße nach Chhule.« Ich will das Dorf mal so nennen, obwohl das natürlich nicht sein wirklicher Name ist.
»Na und?«
»George«, sagte ich. »Sie bauen eine Straße in ein unberührtes Gebiet des Himalaja, wo es noch nie zuvor eine gegeben hat!«
»Ah«, sagte er. »Was für ein Mist. Da können wir wieder ein gutes Trekking-Gebiet abschreiben. Aber so beliebt war die Strecke doch gar nicht, oder?«
Das war wieder mal typisch George. Wie viele Abendländer, die im Himalaja kraxeln, sieht er das Land nur als Ultimaten Bergspielplatz mit einer Menge Hasch und einer Menge ziemlich billigem exotischem Lokalkolorit als Dreingabe. Als Ort, wo man ein paar Jahre lang ganz billig leben kann, vorausgesetzt, man hat nichts gegen Krankheiten und schlechtes Essen. Also lag er in der Sonne, führte seine Treks, bestieg die Berge und scherte sich um alles andere einen Dreck, und wie die meisten Abendländer, die schon lange hier lebten, haßte er allmählich die Touristen, weil sie unwissend waren, und verachtete die Einheimischen, weil sie unwissend waren, und kam langsam zur Meinung, daß es niemand in Nepal richtig machte, abgesehen von ihm und seinen Kumpeln, und die waren, wie es so schön heißt, auch noch verdächtig.
Also hatte er gar nichts begriffen. Aber er war nicht so schlecht wie die meisten — das glaubte ich zumindest. »Komm, George, ich lade dich zum Mittagessen im Marco Polo ein, und dann erzähl ich dir unter vier Augen davon. Wie ich schon sagte, die Sache ist ziemlich kompliziert.«
Also zog George sein T-Shirt und seine Vuarnets an, und wir gingen hinunter. Es war kurz vor Mittag, heiß und feucht, und der tägliche Regen würde bald fallen, und alle im Hotel sahen aus, als wandelten sie wie in Trance umher, abgesehen von der Frau mit dem Kind auf dem Rücken, die sich auf Händen und Knien ihrer täglichen Aufgabe widmete, den Innenhof mit einem Handfeger zu säubern. Dann hatten wir die Hotelpforten verlassen und gingen am Tantric Used Book Shop vorbei nach Thamel, dem Hotelzentrum von Katmandu. In diesem Viertel war zur Monsunzeit kaum was los, was aber nur bedeutete, daß die Taxifahrer und Teppichhändler, Haschdealer und Geldwechsler und Bettler es eifriger denn je darauf abgesehen hatten, unsere Aufmerksamkeit zu erregen. »He, Mr. Nein!« riefen sie George zu und lachten, als er über die Pfützen sprang und sein übliches »Nein, nein, nein, nein!« zu jedem sagte, an dem er vorbeikam, ganz gleich, ob er angesprochen wurde oder nicht. Er war entspannt und lebhaft und ließ es sich gutgehen, tat seine Pflicht und war überall beliebt, der typische Abenteurer aus L. A., etwa einsachtzig groß und wie ein Profifootballer gebaut, dunkelhaarig und auf eine lässige Art durchaus gutaussehend und so cool, daß man mit ihm Pferde stehlen konnte, ja in der Tat so cool, daß die Leute auf der Straße sogar ihren Spaß an seinem üblichen »Nein, nein!« hatten. Ich müßte mir das eigentlich auch mal angewöhnen, war bislang aber noch nicht dazu imstande, und so gehe ich normalerweise ohne eine jede Rupie aus dem Haus, damit ich mir kein Geld ablabern ließ, doch diesmal hatte ich genug dabei, um das Essen für George und mich bezahlen zu können, und wem liefen wir über den Weg? Ausgerechnet einem Bettler, den wir ständig sahen, einem Burschen, der mit seiner kleinen Tochter im Schlepptau durch Thamel wanderte. Er entblößte bei seinem Lächeln dann seine Zahnlücken, und das kleine Mädchen von etwa sechs Jahren lächelte ebenfalls, und beide streckten die Hände aus und waren auch ganz gut darin, denn zumindest ich konnte ihnen niemals widerstehen, und nachdem George sein »Nein!« gemurmelt hatte, gab ich ihnen unser Essensgeld, in der Hoffnung, daß ich George anpumpen und dann sagen konnte, er hätte dem Bettler und seiner kleinen Tochter geholfen, während ich ihn wie abgemacht zum Essen eingeladen hätte.