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Und in den nächsten Wochen fand die Grippe-Epedemie ein Ende — warum, konnte niemand sagen —, doch es war niemand daran gestorben, und so waren alle mit Dr. Choendrak und den verantwortlichen Gottheiten zufrieden, und auch mit George. George war auch sehr zufrieden, obwohl ihm seine eigene Medizin niemals richtig zu helfen schien und er immer wieder in heller Panik zum Scheißhaus rennen mußte.

Doch danach war er freundlicher zu den Mönchen, was wichtig war, da man überall im Tal auf sie stieß. Man kletterte einen Hang hinauf, um Feuerholz zu sammeln, und sah auf das Braun und Grau und Grün der Gersten-Terrassen hinab, und da waren dann überall diese kastanienbraunen Flecke. Mönche.

Auf die gleiche Art und Weise paßten sie sich in die Gesellschaft ein — man sah sie überall, wußte aber niemals genau, was sie taten. Sie waren weder unbedingt Autoritätspersonen noch diese Heiliger-als-du-Typen, die unsere Prediger meistens sind, Männer, die jedes Gespräch auf Erden einfach zum Erliegen bringen können, indem sie sich lediglich unerwartet hinzugesellen — nein, hier waren die Mönche und die kleinere Gruppe der Nonnen ins Leben einbezogen; sie arbeiteten auf den Feldern, stapelten Yakdung, nachdem er zum Trocknen in die Sonne gelegt worden war, und lachten über grobe Witze. Es fiel George oder irgendeinem anderen Abendländer schwer, dies zu verstehen; schließlich kommen wir ja aus einer Welt, in dem die Religion größtenteils ignoriert oder als Tarnung für Diebstahl benutzt wird. Deshalb waren auch so viele Menschen so schnell bereit, die Lügen zu glauben, die die Chinesen über Tibet verbreiteten, das Zeug über eine böse Priesterschaft, die mit ihren Steuern elende Leibeigene in die Armut trieb. So wäre es vielleicht in unserem System vonstatten gegangen; in der Tat ist das, wo ich nun darüber nachdenke, eine ziemlich gute Beschreibung des Fernseh-Evangelismus. Und es paßte den Chinesen natürlich verteufelt gut in den Kram, die nun, da wir in die andere Richtung sahen, die Tibetaner nicht nur foltern, ermorden, versklaven, vergewaltigen, einkerkern und aushungern, sondern auch allen sagen konnten, daß all das nur zum eigenen Nutzen der Tibetaner geschah. Um sie vor sich selbst zu retten.

Und da wir eher den Chinesen als den Tibetanern ähneln, kauften wir es ihnen ab. Schließlich hatten wir vor noch gar nicht so langer Zeit dasselbe mit der älteren religiösen Kultur ›unseres Landes‹ getan, und so wollten wir den Chinesen glauben oder zumindest nicht darüber nachdenken. Auch George, der über die gesamte Südseite des Himalaja latschte und sich an den unglaublichen Bergen erfreute, wollte natürlich nichts über den Völkermord wissen, der auf der Nordseite vonstatten ging. Wer in den vierziger Jahren in den Bayerischen Alpen herumtollte, hat sich schließlich auch nicht über diese Rauchwolken am Horizont gewundert.

Also brauchte er eine Weile, um darauf zu kommen. Zeit, die er damit verbrachte, Kartoffeln zu pflanzen, Terrassenwände zu reparieren und Feuerholz zu sammeln, während ein Mönch oder eine Nonne in der Menge an seiner Last schleppte und Witze riß. Er mußte eine Weile jeden Tag bei Dämmerung die Gesänge hören oder sehen, wie ein Bauer auf seinem Feld meditierte, oder Frauen Mani-Steine schlugen, oder Kinder mit dem Feuerholz, das sie auf dem Rücken trugen, die Gebetsmühlen drehten. Er mußte eine Weile beobachten, wie sich alle in die gemeinsame Arbeit einfügten, ohne darüber zu palavern, wer nun was zu tun hatte. Es dauerte eine Weile, bis er die familiären Verhältnisse durchschaut und herausgefunden hatte, daß es in jeder Familie Mönche oder Nonnen gab; daß die Mönche nicht Mönche wurden, weil ihre Väter ebenfalls welche waren, sondern Generation für Generation aus den Bauern kamen; daß die Klöster hofften, die Besten und Klügsten zu bekommen, aber auch die Schwachen und Behinderten nahmen, und natürlich auch die Spinner bekamen, die religiösen Raumkadetten. All diese kastanienbraunen Punkte im Braun und Grün, die der Szene die letzten Farbtupfer verliehen — als George das sah und verstand, sah er alles mit anderen.Augen.

Und so sagte ich zu Kunga Norbu: »Kannst du ihm nicht ein paar Extras zeigen, etwas Magie aus Shambhala, um ihm den letzten Anstoß zu geben?«

Woraufhin Kunga Norbu sagte: »Freds, wie üblich verstehst du wieder alles falsch. Wir machen die tantrischen Übungen nicht, um andere Leute zu beeindrucken. Doch er darf gern den Manjushri Rimpoche in seinen Kammern besuchen. Und nächste Woche stattet uns die jüngste Schwester des Dalai Lama einen Besuch ab. Er wird dabei sein.«

Schon am nächsten Tag, ganz früh am Morgen, führte ich George zu seiner Audienz bei Sucandram, dem Manjushri Rimpoche und König von Shambhala, Ämter, die im tibetanischen Buddhismus denen der Dalai und Panchen Lamas entsprachen.

Wir wurden aus dem gelben Licht des Morgens durch einen Sandelbaumhain und dann in die tieferen dunklen Kammern des Klosters Kaiapa geführt und gingen zwischen dicken Holzbalken einher, die Jahrhunderte des Rauchs aus Holzöfen und Butterlampen schwarz gefärbt hatte. Jeder Balken auf dieser Etage war mit Festmasken geschmückt, jede ein grellbuntes, glotzäugiges, zahnbewehrtes Dämonengesicht, schwer auf Grün und Rot und Gelb, mit blauen, weißen und goldenen Klecksen. Bönpa- Alpträume waren es, die unheimlichsten Gesichter, die ich je gesehen hatte. Als ich sie sah, wunderte ich mich nicht mehr, warum man den Buddha in Tibet so herzlich Willkommen geheißen hatte.

Dann ging es eine Treppenflucht nach der anderen hinauf, denn Kaiapa war ein Dzong, eine Klosterfestung, erbaut in jenen Tagen, als man noch Invasionen von Dschingis Khan oder Alexander dem Großen befürchten mußte. Also hockte sie auf einem steilen, felsigen Vorsprung der Talwand und sah aus wie ein eckiger Auswuchs des Grats selbst. Jede Ebene war von der darunter zurückgesetzt, und als wir auf steilen, gut ausgetretenen Treppen höherstiegen, kamen wir an immer größeren Räumen vorbei, und in jeden neuen fiel mehr Licht ein als in den darunter. Wir gingen durch die Bibliothek, in der Tausende Bände des Kalacakra und des Tengyur an den Wänden standen — kleine, breite, dicke, schwarz eingebundene Bände, die ursprünglich aus einzelnen Blättern bestanden hatten, und Schriftrollen in Schachteln, wie Klaviernoten. Dann durch ein Musikzimmer, in dem Trommeln, Becken und lange Hörner aufbewahrt wurden. Dann hinauf in den bislang sonnigsten Raum, in dem die Wände weiß getüncht waren und der glatte Holzboden von einem Sandgemälde mit einer Mandala in der Mitte geschmückt wurde. »Was ist das?« fragte George, der hineinsah, als wir vorbeigingen.

»Das war Essas Zimmer«, erklärte ich ihm.

»Essa?«

»Jesus, du weißt schon.«

Keine Antwort von George.

Schließlich wurden wir in den Raum geführt, bei dem es sich um den höchsten in Kaiapa zu handeln schien. Seine Wände waren mit Teppichen behangen, die in hellen Mandala-Mustern die Geschichte des tibetanischen Buddhismus zeigten. Ansonsten war das Zimmer leer. Die südliche Wand bestand aus großen Schiebetüren, und der Mönch, der uns hinaufgeführt hatte, schob sie zurück, um die kühle, scharfe Morgenluft und das Geräusch eines Gesangs aus einem der tieferen Stockwerke einzulassen.

Der Mönch ging, und nach einer Weile trat ein anderer ein. Dann sah ich das Gesicht des neuen Mönchs und begriff, daß es Sucandra war, der Manjushri Rimpoche.

Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, doch ich wußte es. Ich wünschte, ich könnte erklären, wieso. Er war eine Reinkarnation, ein Tulku wie Kunga Norbu, nur unendlich mächtiger — er war die Reinkarnation des Padma Sambhava, des indischen Yogi, der im achten Jahrhundert den Buddhismus nach Tibet gebracht hatte, und er war auch der Manjushri Bodhisattva, der Bodhisattva der Weisheit, was bedeutete, daß er sich schon an die Grenze des Nirwana hochgearbeitet, sich dann aber entschlossen hatte, in nachfolgenden Inkarnationen in menschlicher Form zurückzukehren, nur um anderen Menschen auf den Weg zu helfen.