Diesmal sah er wie jeder andere Mönch auch aus. Alt, den Kopf glattrasiert, das Gesicht zu jener Landkarte der Falten zerfurcht, die alte Himalaja-Gesichter schließlich annehmen. Doch der Blick in seinen Augen — dieses ruhige und freundliche Lächeln! Wenn man sich nicht in seiner Gegenwart befand, konnte man nur schwer den Finger darauflegen, doch mit ihm in einem Zimmer bestand kein Zweifel daran — ein Gefühl floß aus ihm hinaus und in uns hinein, sowohl scharf als auch beruhigend. Belebend — als habe sich die kühle, sonnige Morgenluft plötzlich in einen Daseinzustand verwandelt.
Er bat uns, Platz zu nehmen, auf Englisch mit einem starken britischen Akzent. Er klang wie der Großvater unseres Kumpels Trevor. Wir setzten uns, und er kam mit einem Tablett hinüber und goß uns heißen Tee ein, ohne Yakbutter darin.
Wir tranken den Tee und unterhielten uns. Er fragte uns nach unserem Leben in Nepal und in den Staaten und ließ uns erzählen, wie wir mit Kunga Norbu den Chomolungma bestiegen hatten, wobei er oft lachte. »Der Diamantpfad ist schwer«, sagte er. »Die Mutter Göttin bestiegen! Dennoch, das ist besser, als mit einem Schuh auf den Kopf geschlagen zu werden.« Er lachte. »Ich würde ihn gern einmal selbst besteigen.«
Ich sah, wie George überlegte, ob er dem Rimpoche sagen sollte, daß die Mutter Göttin in Wirklichkeit der K2 war — des Rimpoches Gesicht hatte etwas an sich, das einen verleitete, sofort mit der Wahrheit herauszurücken, worüber man auch sprach. Also wechselte ich schnell das Thema. »George hier wird uns helfen, den Bau der Straße nach Chhule zu verhindern«, sagte ich.
Der Rimpoche betrachtete George genauer. Die Aufmerksamkeit, die er einem entgegenbrachte, war intensiv, aber gleichzeitig so mit Freundlichkeit erfüllt, daß man sie unwillkürlich als angenehm empfand. Und seine Stimme war so entspannt. »Das würde uns helfen«, sagte er. »Seit langer Zeit leben wir hier am Ende der Erde, doch die Welt ist gewachsen, bis die Gefahr, entdeckt und überlaufen zu werden, sehr konkret wurde.«
»Das ist gewissermaßen doch schon geschehen, nicht wahr?« sagte George. Er deutete aus dem Fenster, auf das Dorf und die Flüchtlingszelte hinab.
Der Rimpoche nickte. »Gewissermaßen. Aber wir können uns vor unserem Volk nicht verbergen, wenn es in Not ist, in Lebensgefahr. Und wenn die Zeit kommt, werden sie oder ihre Kinder oder die Kinder ihrer Kinder wieder in ihre wahre Heimat zurückkehren. Doch in so großem Maßstab von der Welt entdeckt zu werden — an die Straße nach Katmandu und den Flughafen angeschlossen zu werden …« Er schüttelte den Kopf und sah George an. »Sie wollen uns helfen?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich etwas tun kann.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
»Nun ja …« George rang mit sich und schaute weg. Schließlich erwiderte er den geduldigen Blick des Rimpoche. »Ja. Das will ich.«
»Na also!« rief ich, und beide lachten.
Danach sprachen sie über andere Dinge. Ich ging auf einen schmalen Balkon, um auf das Dorf hinabzusehen, das in der Morgensonne dampfte. Im Zimmer lachten George und der Rimpoche über etwas, das George gesagt hatte. »Die Chinesen sind eine Prüfung«, antwortete der Rimpoche. »Wir müssen auch sie lieben.«
»Freds sagt, daß sie als Blutegel wiedergeboren werden«, sagte George.
Und sie lachten und unterhielten sich. Ich ging wieder hinein und gesellte mich zu ihnen. Einmal beugte der Rimpoche sich vor, um unsere Teetassen neu zu füllen, wobei er sich wie ein Tänzer bewegte, der das Füllen von Teetassen darstellte. Sie hatten wieder über die Straße gesprochen, und er murmelte wie zu sich selbst vor sich hin. »Der Reine ist angesichts des Unreinen machtlos. Nur der Heilige behält die Oberhand.«
Stille Minuten, im Sonnenschein am Tee nippen — so verbringt man Zeit mit einem Bodhisattva, und während man es tut, begreift man auch, wieso.
Danach, auf unserem Weg hinab, schwieg George. Erst, als wir das Kloster verlassen hatten, sagte er: »Weißt du, ich habe ihn gefragt, wie alt er ist.«
»Ach ja?«
»Ja, wärest du nicht neugierig? Er ist hundertundzwanzig, Freds. Hundertundzwanzig Jahre alt.«
»Das ist ziemlich alt.«
»Er sagt, er wird in drei Jahren sterben. Er sagt, wenn er in Tibet wiedergeboren werde, wie es normalerweise der Fall ist, wäre die nächste Inkarnation mit Sicherheit eine sehr seltsame.«
»Er sollte sich einen anderen Ort aussuchen.«
»Das habe ich ihm auch vorgeschlagen, doch er meinte, das sei gar nicht so einfach. Das Bardo ist ein dunkler und gefährlicher Ort. Er sagte mir, damals in den vierziger Jahren habe ein Lama einmal versucht, sich als König von England zu reinkanieren …«
»Als Prinz Charles? Das erklärt einiges.«
»Nein, er hat ihn verfehlt. Hat sich verirrt. Der Rimpoche glaubt, er muß als Colonel John wiedergeboren worden sein. Deshalb kam der Colonel nach Tibet, hat im Widerstand gekämpft und weiß jetzt über seine Vergangenheit nicht mehr so recht Bescheid.«
»Das würde es erklären.«
»Allerdings. Obwohl ich immer noch glaube, es liegt daran, daß er nach einer Verletzung des Sprachzentrums im Gehirn versucht, eine neue Sprache zu lernen.«
»Hast du das dem Rimpoche gesagt?«
»Nein. Aber ich wünschte, ich hätte es.«
Und dann tauchte am nächsten Nachmittag Colonel John auf, wie er eine Reihe Ponies über den Paß führte, und das zweite Pony trug die jüngste Schwester des Dalai Lama. Plötzlich liefen alle Dorfbewohner aus ihren Häusern und die Hänge hinab, kamen von talabwärts und talaufwärts zusammengelaufen und scharten sich um die Prozession, bis die Ponys sich nicht mehr bewegen konnten, und alle schrien, die Schwester der Dalai Lama und ihre Begleiter schrien, Colonel John schrie, alle riefen ihren Namen, und Tränen liefen wie Monsunregen ihre Gesichter hinab. George und ich standen ein Stück abseits und kamen uns vor, als seien wir versehentlich in eine Familienfeier geplatzt, ein Wiedersehen, mit dem keiner mehr wirklich gerechnet, auf das aber alle gehofft hatten.
Später wurden wir zu Pema Gyalpo, der Schwester des Dalai Lama, geführt und vorgestellt. Sie sprach ausgezeichnet Englisch und wirkte äußerst glücklich, hier im Tal zu sein. Sie lachte und gab jedem von uns die traditionelle weiße Sichel des Willkommens und ein kleines Bild des Dalai Lama, und wir hatten ein großes Festessen, und alle Einheimischen trugen ihre besten Sonntagsgewänder und all ihren Schmuck, den sie vorher an ihre Verwandten verliehen hatten, so daß jeder etwas trug, und wir tranken Chang und saßen an den Öfen und sangen bis spät in die Nacht. George und ich kannten die Lieder nicht, und so tranken wir Chang und summten zu jeder Note ein tiefes Auoum, summten, bis wir praktisch bewußtlos zusammenbrachen. George hielt sein Porträt des Dalai Lama in der Hand, und dann und wann sah er es an und sagte: »Jetzt verstehe ich, warum die Chinesen nicht zulassen, daß die Touristen in Tibet Phil Silvers-T-Shirts tragen. Sieh dir das an!«
Und am nächsten Morgen saßen wir auf den Felsen, von denen man die heiße Quelle überblicken konnte. Wasser floß die steinerne Rinne in den leeren Wäscheteich hinab, und Dampf stieg auf, trieb zu den Farnen und Moosen und überzog sie mit einer feinen Tauschicht. Talabwärts erwachte das Dorf gerade; graubrauner Rauch erhob sich von den Dächern aus dem Schatten des Berges in die Sonne, wo er eine helle, goldene Färbung annahm, und George wandte sich mir zu und sagte: »Mal sehen, was wir wegen dieser Straße unternehmen können.«
Also kehrten wir nach Katmandu zurück, marschierten tagelang und wurden dann von Colonel John gefahren, der bei einer Familie im Dorf am Ende der Straße einen Land Rover untergestellt hatte. Wir gruben ihn aus einem Turm Yakdünger aus, und er fuhr uns schneller, als es mir recht war, die schweizerische Straße entlang, schaltete den Landrover bei jeder Haarnadelkurve auf Allradantrieb um und machte den Eindruck, als hätte er es vorgezogen, die S-Kurven völlig zu ignorieren und schnurstracks den Berg hinabzufahren und die Straße nur als gelegentliche Start- oder Landerampe zu benutzen. Nach einer Stunde erreichten wir die alte unbefestigte Straße, und dann ignorierte er alle Schlaglöcher und Erdrutsche und die traurigen Dörfer am Straßenrand und fuhr wie ein Selbstmörder, bis wir die Ring Road von Katmandu erreicht hatten. Wir hatten die Entfernung, für die wir mit dem Bus achtzehn Stunden gebraucht hatten, in gut vier zurückgelegt, doch wir waren genauso erschöpft, wenn nicht noch erschöpfter.