Nach schnellen Besuchen im Schweizerischen Konsulat und dem Palastsekretariat war er dann reisefertig. Colonel John fuhr uns zu dem Bauernhof am Ende der Straße, und wir versteckten seinen Landrover und marschierten praktisch drei Tage lang ununterbrochen, um Chhule herum, durch den Rhododendron-Wald, dessen Blüten alle abgefallen waren und nun auf dem Boden lagen, und das Hochtal hinauf, in dem nun das Monsun-Wasser mit lautem Getöse abfloß. Dann über den Gletscher und den Grat hinauf in den Schnee, über den Paß und hinab nach Shambhala.
Wir hatten das heilige Tal kaum erreicht, da erzählte der Colonel schon allen von Georges Plan. Die Khampas waren allesamt begeistert, doch der Manjushri Rimpoche zeigte sich nicht so enthusiastisch. »Auf keinen Fall darf dabei jemand zu Schaden kommen. Das wäre ein so großes Unrecht, daß es alles Gute, was dabei herauskommen könnte, zunichte machen würde.«
Colonel John hörte das nicht gern, doch er stimmte zu, wobei er genau wie Eddie Haskeil klang — »Natürlich nicht, heiliger Rimpoche, wir werden niemand töten. Wir werden nur Sachschäden anrichten.«
»Wir wollen ihnen nur Angst einjagen«, erklärte ich.
»Ja!« sagte Colonel John und machte sich meine Argumentation zu eigen. »Wir wollen ihnen nur Angst einjagen«, und schon sprudelten Pläne aus ihm hervor, wie man den Grenzposten auf beiden Seiten so schreckliche Angst einjagen konnte, daß ein paar Soldaten vielleicht vor Furcht starben, was sehr bedauerlich wäre, aber nicht direkt unsere Schuld. Nicht so direkt wie Kugeln zumindest.
Mit der Organisation des Überfalls fiel er wieder völlig in seine Marine Corps-Angewohnheiten zurück, stellte zwei Einheiten auf, bildete sie aus, zeichnete Karten und Diagramme und schmiedete Schlachtpläne. Sein Plan sah vor, daß die beiden Einheiten ihre Angriffe auf die Grenzposten in Nepal und Tibet zeitlich so durchführen sollten, daß sie sich aus beiden Richtungen in den Nangpa La zurückziehen, sich dort vereinigen und entkommen würden, während die sie vielleicht verfolgenden Chinesen und Nepali aufeinandertreffen würden. Er hielt das für eine geniale Idee. Tag für Tag kam er mit einem neuen Einfall an, der den Plan noch wirksamer machen sollte. »Okay«, sagte er nach einem dieser Brainstorms, »wir überfallen Chhule in den Uniformen der chinesischen Armee, aber jeder fünfte Soldat wird eine dieser Dämonenmasken des Klosters tragen, wodurch die Nepali einen unterbewußten Schock bekommen. Bewußt werden sie denken, es wären die Chinesen, doch im Unterbewußtsein werden sie glauben, alle Dämonen von Yamantaka würden über sie herfallen.«
George runzelte bei diesen Ideen immer nachdrücklich die Stirn. »Glauben Sie nicht, das wäre etwas übertrieben?« pflegte er dann zu fragen. »Ich meine, es ist ja wirklich wichtig, daß die Soldaten in Chhule glauben, die Chinesen würden sie überfallen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Dämonenmasken dazu beitragen werden.«
»Natürlich werden sie das«, sagte Colonel John und tat den Einwand ab. »Wir spielen hier mit ihrem Unterbewußtsein. Psychologische Kriegsführung. Wissen Sie, ich habe nicht umsonst zehn Jahre bei der CIA verbracht. Überlassen Sie diesen Teil einfach mir.«
»Wenn dort Gurkhas stationiert sind, wird es ihnen völlig gleichgültig sein, wie wir aussehen«, warnte George. »Sie werden das Feuer erwidern.«
»Da oben sind keine Gurkhas!« schnappte Colonel John. »Da oben ist nur die Nepalesische Militärpolizei, die schlechteste Truppe auf Erden.« Und er erzählte George einfach nichts mehr von seinen Plänen.
Schließlich war alles vorbereitet. Die beiden Gruppen, die die Überfälle durchführen sollten, sollten am selben Abend aufbrechen; die eine würde Colonel John nach Nepal, die andere Kunga Norbu nach Tibet führen. Der Manjushri Rimpoche hatte uns die Erlaubnis gegeben, einige der Tunnels von Shambhalas uraltem Tunnelsystem zu benutzen, damit wir das Tal unbemerkt verlassen konnten — allerdings nur den Grat hinauf, auf den Sattel des Nangpa La.
Nun war der Nangpa La, wie ich schon sagte, der Paß der alten Salz- und Wollhändler zwischen Tibet und Nepal und damit genau der Paß, den die Chinesen oder Nepali nehmen würden, wenn sie die anderen Seite überfallen wollten. Nicht, daß die Nepali jemals so dumm sein würden, China anzugreifen, doch die Chinesen waren davon überzeugt, daß die Inder die Strecke benutzen und die Existenz Nepals einfach ignorieren würden. Also war er für unsere Zwecke perfekt geeignet — er paßte zu unserer Tarngeschichte, und nichts würde etwaige Verfolger ins Gebiet von Shambhala führen. Also konnten wir die Überfälle vornehmen und bei Anbruch der Dämmerung wieder auf dem Nangpa La sein, und wenn wir erst einmal verschwunden waren, konnten etwaige Verfolger die Sache mit ihrer gegenseitigen extremen Paranoia selbst klären.
»Ich weiß nicht«, sagte George immer wieder. »Vielleicht sollten wir uns auf die nepalesische Seite beschränken. Ich meine, was werden sie glauben, wenn sie beide angegriffen werden?«
»Beide werden glauben, daß die andere Seite lügt«, sagte der Colonel, »und beide haben schon seit Jahren gute Gründe für diese Annahme.«
Die einzige Frage, die den Colonel wirklich beschäftigte, bestand darin, ob er die richtige Gruppe führte. Sein tiefster Haß galt den Chinesen, und ihr Armeeposten würde sich im Fall eines Angriffs wahrscheinlich besser seiner Haut zu wehren wissen. Doch genau das war der beste Grund, auf der nepalesischen Seite zu bleiben, denn wenn er und die Khampas sich von einem chinesischen Zug in ein Feuergefecht verwickeln ließen, würden sie wahrscheinlich durchdrehen und sie alle umbringen. Sogar der Colonel sah das ein. Andererseits war die Chance, den furchtsamen Nepali einen höllischen Schreck einzujagen, sowohl zufriedenstellend als auch sicher — und war die beste Möglichkeit, die der Manjushri Rimpoche gewähren würde, sich für Birendras Verrat am tibetanischen Widerstand 1972 zu rächen.
Also versammelten wir uns drei Tage nach unserer Rückkehr mittags auf dem Klosterhof. Dämonenmasken wurden verteilt und Gewehre und Mörser, die den Eindruck machten, als kämen sie aus einem Museum der Kaschmir-Kriege. Ich mußte einen Mörser tragen, und George bekam einen Rucksack mit Munition dafür, in dem sich, dem Gewicht nach zu urteilen, Felsbrocken zu befinden schienen. Der Colonel erklärte uns, wie sich das Ding bedienen ließ. Es stellte sich heraus, daß die Mörser in der Tat Antiquitäten waren, und den Khampas war schon vor langer Zeit die Munition für sie ausgegangen, so daß sie sich Sprengladungen zusammengebastelt hatten, indem sie gestohlene chinesische Patronen ausschlachteten. Sobald sich diese Sprengladungen in den Mörsern befanden, stopfte man sie mit Füllmaterial aus Yakwolle und dann mit Kanonenkugeln oder Vogeldunst oder Felsbrocken, was immer zur Hand war, und feuerte sie ab.
Der Manjushri Rimpoche kam heraus und gab uns seinen Segen, und Colonel John hielt eine aufmunternde Rede. Dann gesellte sich der Kuden Kalapas in seiner goldenen Zeremonienrobe zu uns, der wie üblich so benommen aussahen, als würde er es nicht mehr lange machen, und fiel plötzlich in eine Trance und machte pompöse Bewegungen, und sie bemühten sich, ihm seinen Helm aufzusetzen, der um die hundert Pfund wog und aussah, als würde er ihn zu Boden zwingen, und sie zogen ihm den Riemen um das Kinn fest, bis er bald erstickte, und dann übernahm ihn der Geist des Dorje Drakden vollends, und er schritt plötzlich mit hervorquellenden Augen auf dem Hof auf und ab und zischte in ersticktem Tibetanisch vor sich hin, das ich nicht verstehen konnte, und schwang ein riesiges Holzschwert und wirbelte herum, so daß wir ihm Platz machen mußten. Es war klar wie Kloßbrühe, daß Dorje Drakden Besitz von ihm ergriffen hatte und uns anschnaubte — eine zornige Gottheit, die unter dem dunklen Himmel und dem seltsamen Licht der ewigen Flamme zwischen uns wandelte, und ich will verdammt sein, wenn sich nicht ein Teil ihres Geistes in jeden von uns ergoß. Als Dorje also mit seinem riesigen Schwert auf den Eingang des Klosters deutete, stürmten wir alle hinein.