»Gut«, schnaubte er.
Dann ging es zurück durch die Tunnels, jeden Meter im Laufschritt. Zum Glück für George ging es bergab, denn als wir den Hauptbahnhof und dann den Klosterkeller erreichten, traten wir ins helle Morgenlicht hinaus, was bedeutete, daß wir die ganze Nacht über gelaufen waren. Das war der übliche Guerilla-Stil der Khampas; ich nehme an, wir hatten in den letzten achtzehn Stunden etwa achtzig Kilometer zurückgelegt, zwanzig unter ständigem Beschüß. Ich war erschöpft, und George war völlig fertig. Er sah aus, als hätte er noch seine Dämonenmaske auf, und zwar eine der abscheulicheren, das Gesicht geschwollen und voller blauer Flecken und blutig, den Mund zu einer Grimasse verzerrt und die Augen vor Unglauben hervorquellend, daß er an solch einer Unternehmung wie der unsrigen teilgenommen hatte. Doch wir waren zurück.
Lhamo und die anderen Dörfler kümmerten sich aufopferungsvoll um George. Mehrere Tage lang wälzte er sich im Lhamos Haus im Fieber, stöhnte und ächzte, und Sindu und ihr Kind halfen Lhamo, ihn zu füttern und ihm das Gesicht abzuwischen, wobei sie sorgsam darauf achteten, nicht die Schnitte und Prellungen zu berühren, um die sich Dr. Choendrak auf die übliche Weise gekümmert hatte: Er hatte sie genäht und so weiter.
Dr. Choendrak hatte sich auch entschlossen, Georges Dysenterie ein für alle Mal zu heilen, und ihm die Rinchen ribus, die wertvollen Pillen, verordnet. Diese Pillen setzen sich aus einhundertfünfundsechzig Bestandteilen zusammen, darunter wertvolle, zu Pulver zermahlene Metalle und zahlreiche Heilpflanzen, die dann mit regenbogenfarbigen Fäden in bunte Baumwolle eingenäht und mit Wachs versiegelt werden. Zwanzig Apotheker brauchen bis zu drei Monaten, um sie ein solches Säckchen herzustellen, und das Medikament ist so stark, daß der Patient normalerweise einen ganzen Tag flachliegt, während das Gleichgewicht seiner Gedärme wiederhergestellt wird. George lag fünf Tage völlig flach, und eine Weile war Dr. Choendrak wirklich um ihn besorgt. Doch schließlich erholte er sich und stand auf, ein bloßer Schatten seiner selbst, steifgliedrig und mit einem zottigen Bart, der sein Gesicht aussehen ließ, als wären kleine Axtmörder mit winzigen Äxten hinter ihm hergewesen.
Der Monsun ließ nach, wir hatten mehrere sonnige Tage hintereinander, und George verbrachte die Zeit auf dem Aussichtsfelsen über dem Wäscheteich und beobachtete die Einheimischen bei ihrem Alltagsleben. Er war noch immer ziemlich krank und schwach, aber da oben brauchte er auch keine Kraft. Neuankömmlinge am Teich begrüßten ihn auf Tibetanisch, und er antwortete auf Englisch, und alle waren mit diesem Arrangement zufrieden. Die meiste Zeit über schlief er auf seinem Felsen wie eine Katze.
Mittlerweile war Colonel John nach Katmandu gefahren, und als er zurückkam, ging ich ganz aufgeregt zu George. »Ha«, sag’ ich, »willst du hören, was wir getan haben?«
»Ich weiß, was wir getan haben«, sagte er düster.
»Aber willst du nicht darüber in der International Herald Tribüne lesen?«
»Was?«
Ich hielt ihm die zerfledderten Ausgaben der Zeitungen hin, die der Colonel mitgebracht hatte. »Sieht so aus, als hätte es ein paar Mißverständnisse gegeben«, sagte ich, während George von seinem Felsen glitt und sich die Zeitungen schnappte.
Die erste stammte vom 29. Juli, drei Tage nach unseren Überfällen. Auf einer der hinteren Seiten stand ein kleiner Artikel mit der Überschrift ›Nepal protestiert gegen angebliche Grenzverletzung der Chinesen‹, und die Überschrift gab den Bericht im großen und ganzen treffend wieder.
Schon am nächsten Tag war die Affäre auf die Titelseite befördert worden — »Beijing beschuldigt Indien des Angriffs auf Tibet« stand da über einem ziemlich umfangreichen Artikel, der die gegenseitigen Anklagen und Beschuldigungen der beiden Länder wiedergab. Anscheinend waren die Chinesen der Meinung, der Angriff auf ihren Grenzposten sei von der indischen Spezialgrenztruppe durchgeführt worden, die dabei Nepal durchquert hatte, damit kein Verdacht auf sie fiel. Und die Inder waren der Meinung, der ganze Vorwurf sei eine Lüge, um von einem chinesischen Angriff auf Nepal abzulenken, den sie, da Nepal auf ihrer Seite des Himalaja lag, für eine Bedrohung ihrer ureigenen Sicherheit hielten.
So weit, so gut. Doch bei der Tribbie vom 2. August fand sich oben auf der ersten Seite die breite Überschrift: TRUPPENMASSIERUNG AN DER CHINESISCH-INDISCHEN GRENZE.
»Oh, mein Gott«, sagte George, während er den Artikel überflog, und er sagte es immer und immer wieder, mit immer höherer Stimme.
Ein guter Teil der ersten Seite war diesem Artikel und damit zusammenhängenden Begleitartikeln gewidmet; sie beschrieben das Verschwinden des DMZ an der indisch-chinesischen Grenze in Kaschmir, den unerwarteten Aufmarsch indischer Truppen in Sikkim und auch, daß die Pakistani die Inder gewarnt hatten, sich nicht mit ihren Kumpels, den Chinesen, anzulegen, während die Sowjets die Chinesen gewarnt hatten, sich nicht mit ihren Kumpels, den Indern, anzulegen. »Oh, mein Gott«, sagte George immer wieder.
Und die Zeitung des nächsten Tages bestand praktisch ausschließlich aus der Grenzkrise, alles mit großen Überschriften, und auch, wenn man die Tatsache berücksichtigte, daß es sich um die in Hongkong erscheinende Ausgabe der Trib handelte, die großen Wert auf die Berichterstattung über asiatische Angelegenheiten legte, mußte man eingestehen, daß es sich um eine bedeutende internationale Krise handelte. Es wurden Zusammenstöße zwischen indischen und chinesischen und indischen und pakistanischen Truppen gemeldet, einige davon wirklich ernst. Und amerikanische Satellitenfotos zeigten massive Truppenaufmärsche an der sowjetischchinesischen Grenze.
»Oh, mein GOTT«, sagte George. »Wo ist der nächste Tag? Wo ist der nächste Tag?«
»Mehr hat der Colonel nicht mitgebracht.«
»Was? Er fuhr mitten in dieser Krise ab? Ohne jemandem zu sagen, daß wir sie angezettelt haben? Wie lange ist das her?« Er sah auf das Datum. »Fünf Tage! Oh, mein Gott.«
Er lief zum Dorf zurück und schimpfte Colonel John einen ausgemachten Vollidioten. »Verdammt, vielleicht haben wir gerade den Dritten Weltkrieg ausgelöst!« schrie er ihn an.
Es stellte sich heraus, daß dem Colonel das ziemlich egal war. Er war der Auffassung, daß der Dritte Weltkrieg eine der wenigen Möglichkeiten war, wie Tibet das chinesische Joch abschütteln konnte, und wenn dazu eben ein Dritter Weltkrieg nötig war, hatte John nichts dagegen.
George nahm ihn dafür auseinander. »Was würde der Manjushri Rimpoche sagen, wenn Sie ihm das erzählen? Er würde Sie sofort aus diesem Tal werfen!«
Was wahrscheinlich zutraf. Doch der Colonel schob nur trotzig die Unterlippe hervor. Er wußte ganz genau, daß der Rimpoche ihm wegen dieser selbstsüchtigen Einstellung einen Tritt in den Arsch geben würde, aber er würde nicht lügen — und das war eben seine Meinung. Wenn die Welt keinen himmelschreienden Völkermord beenden konnte, dann eben zum Teufel mit ihr. Sollten sie doch Atombomben fressen.
George war so wütend, daß er nichts mehr sagen konnte. Er ging zu einer der grasbewachsenen Steinwände, die die Dorfstraße umsäumten, und trat so heftig dagegen, daß mehrere Steine aus der obersten Reihe herausfielen. Dann drohte er, dem Rimpoche von Johns mörderischen Hoffnungen zu erzählen, falls der Colonel uns nicht augenblicklich nach Katmandu zurückfahren würde.
John war damit einverstanden, und noch in dieser Nacht marschierten wir über den Paß und zum Landrover hinab und beeilten uns so sehr, daß ich befürchtete, George würde zusammenbrechen, und am nächsten Nachmittag waren wir wieder in Thamel, wo das Leben ganz normal weiterging, als stünden wir überall sonstwo, nur nicht an der Schwelle zum Dritten Weltkrieg, obwohl das in Katmandu gar nichts zu bedeuten hatte. Letzte Woche hätte das Armageddon über die Erde hereinbrechen können, und Katmandu hätte wahrscheinlich noch nichts davon gewußt. Hier würde man es zuletzt erfahren.