Sie quartierten ihn in ihrem kleinen Zweibett-Hospital ein, um ihn wieder auf die Beine zu bringen. Es dauerte eine Weile, und ich brachte ihm jeden Tag die neue Tribbie.
Und langsam konnten wir, mit unserer Vier-Tage-Verzögerung an Echtzeit, beobachten, wie sich die Krise abschwächte und beigelegt wurde. Alle kamen zum Schluß, es sei ein falscher Alarm gewesen. Gerüchte über geheime diplomatische Bemühungen der Amerikaner und Schweizer blühten auf, besonders in Georges Zimmer in der Klinik. Zweifellos eine Intervention in einem kritischen Stadium. Und so beendete George seine Tageslektüre, erschauderte leicht und schlief dann wieder ein.
Eines Tages marschierte ich mit den Schweizern durch einen Wolkenbruch zum K.C., und bei ein paar Bieren erzählten sie mir, die Straße nach Chhule sei toter als Mussolini. Die Inder würden sie auf keinen Fall bauen, und Birendra und seine Bande würden sie auch auf gar keinen Fall bauen. Zu gefährlich.
Am nächsten Tag entließen die Kanadier George, und ich holte ihn ab. »Du hast es geschafft, George. Sie werden die Straße nicht mehr bauen. Bist du nicht froh, daß du dich entschlossen hast, uns zu helfen?«
Keine Antwort von George.
Wir fuhren mit einem Taxi nach Thamel und gingen über die Hauptstraße zum Star. George war so sehr ein Geist seiner selbst, daß die Straßenhändler ihn nicht mal erkannten, und sie bequatschten ihn, als sei er ein Fremder und nicht ihr geliebter Mr. Nein. »Geld wechseln? Haschisch? Teppich? Pfeife? Geld wechseln?« Und er starrte sie an, als ziehe er ihr Angebot in Betracht oder versuche zumindest, es zu verstehen. Das mit dem Geldwechsel habe ich selbst oft genug zu verstehen versucht. Ich meine, die Leute auf der Straße zahlen einem bei Reise-Schecks mehr als den offiziellen Wechselkurs. Dann verkaufen sie die Reiseschecks für mehr, als sie sie gekauft haben. An wen auch immer sie sie verkaufen, der muß sie wohl doch ebenfalls für mehr verkaufen, als er bezahlt hat, und so weiter, und so fort, und ich frage mich, wo endet das? Steckt da nicht jemand am Ende der Reihe ganz schön in der Klemme, wenn er sie für den offiziellen Wechselkurs verkaufen muß und jede Menge Geld verliert?
Auf jeden Fall stand George auf der Straße und starrte die Leute an, als habe er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, bis sie es aufgaben und weiterzogen.
»Schau mal«, sagte er immer wieder. »Schau mal, Freds. Da liegt ein Abfallhaufen. Direkt auf der Straße.«
»Richtig, George. An dem gehen wir jeden Tag vorbei.«
»Kühe fressen den Abfall. Ratten. Hunde. Kinder.«
»Richtig.«
Wir gingen weiter.
»Gehen wir zum Old Vienna«, sagte er plötzlich.
»Bist du sicher, daß deine Gesundheit das verkraftet?« fragte ich.
»Ist mir egal.«
Aber in Wahrheit war es ihm nicht egal. Er hatte so sehr gelitten, daß er vorsichtig wurde, als das Essen auf den Tisch kam, und zum Schluß kam, er solle wirklich kein Fleisch essen, da wir niemals genau herausgefunden hatten, woher Eva das Fleisch bekam. Er löffelte etwas Gulaschsoße und ließ mir die Wasserbüffelstückchen übrig, und schnüffelte dann zweifelnd an unserem Essen und sah mir traurig zu, wie ich mein Pariser Schnitzel und den Apfelstrudel mit Schlagsahne aß.
Als wir schließlich träge hinaustrotteten, fühlte sich George also etwas niedergeschlagen, obwohl der letzten Trebbie zufolge, die wir in einem Second-Hand-Geschäft hatten auftreiben können, die Grenzkrise ziemlich beigelegt war. Doch als ich die Zeitung zusammenfaltete, sah ich auf einer der hinteren Seiten einen kleinen Füllartikel mit der Überschrift: »Der Everest ist immer noch der höchste«.
»He, sieh dir das mal an«, sagte ich zu George und las ihm den Artikel vor. »»Anfang dieses Jahres haben Wissenschaftler der University of Washington die Bergsteigerwelt verblüfft, indem sie berechneten, der K2 sei 8858 Meter hoch. Nun hat ein italienisches Team den Everest wieder dorthin gesetzt, wohin er gehört, nämlich mit der neuen Höhe von 8872 Metern an die erste Stelle. Das Team berechnete auch den K2 neu und stellte fest, daß er 8816 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Die Amerikanischen Bergsteiger sind bereit, die italienischen Messungen zu akzeptieren.« Was sagt man dazu! Tolle Neuigkeiten was? Jetzt mußt du wenigstens nicht mehr mit Kunga Norbu und mir den K2 besteigen.«
»Gut«, sagte George.
»Und du hast Shambhala gerettet«, fuhr ich fort. »Du hast das heiligste, wichtigste verborgene Tal der ganzen Welt gerettet.«
»Gut«, sagte er. »Aber wir brauchen da oben trotzdem noch ein paar Benzinöfen.«
»Nicht unbedingt. Hast du nicht gehört? Der Rimpoche will deine Idee ausprobieren — sie fertigen ein Keramikrohr an, um die ewige Flamme in eine Gemeinschaftsküche zu leiten, vielleicht sogar in mehrere. Dr. Choendrak und einige andere Mönche haben schon die ersten Entwürfe gemacht.«
»Gut.«
Aber er war noch immer niedergeschlagen und sah sich noch immer um, als wir durch Thamel zum Hotel Star gingen. »Freds, da wächst Gras auf dem Dach.«
»Mir gefällt Gras auf dem Dach.«
»Freds, das ist eine der größten Straßen der Hauptstadt dieser Nation, und das ist Schlamm.«
»Richtig.«
»Und das ist die Hauptstadt dieses Landes.«
»Richtig. Aber den findest du auch in Teilen von Washington, D. C, wenn ich mich recht entsinne.«
Er seufzte. »Ja, aber trotzdem …«
Dann liefen wir dem Bettler und seiner Tochter über den Weg. Sie standen da Hand in Hand und streckten uns beide freie Hände entgegen. Sie sahen aus wie immer, nur daß sie wegen des Monsuns nasser waren, der Bettler mit seinem Lächeln, bei dem er einige Zahnlücken entblößte, und das kleine Mädchen, das in ihrem Kleid wie ein UNICEF-Poster aussah und gar nicht so viel anders als Sindus kleiner Junge oben im Tal, und George sagte: »Oh, Mann«, und wühlte in seiner Brieftasche, holte eine Handvoll Rupien hervor und gab sie dem Bettler. Der Bettler nahm sie und trat zurück; er wirkte schockiert.
George ging ihm nach und sah zu mir zurück. »Freds, wir müssen etwas tun, meinst du nicht auch?«
»Du hast gerade etwas getan, George.«
»Ja, aber das reicht nicht! Ich meine, könnten wir sie nicht anstellen, unsere Zimmer zu säubern oder die Hotelhalle zu fegen, damit sie einen Job haben?«
»Die Portiers haben diesem Mädchen mit dem Baby auf dem Rücken den Job gegeben. Das war wohl ein ähnlicher Fall.« Und in der Tat lief das Geschäft des Bettlers gut; sein kleines Mädchen war in dieser Gegend eine Menge Rupien wert. Anderen Bettlern ging es im Vergleich zu ihm wirklich schlecht. Aber das sagte ich nicht.
»Aber könnten wir nicht … könnten wir ihnen nicht sagen, daß sie einfach unsere Zimmer machen sollen?«
»Sie würden dich nicht verstehen.«
Der Bettler und das Mädchen zogen sich vorsichtig von uns zurück und marschierten dann davon. George ließ die Schultern hängen.
»Wir können nichts tun, was?«
»Nein. Nur das, was du gerade getan hast, George.«
Wir erreichten das Star, gingen auf unsere Zimmer, lasen den Rest der Trib, rauchten ein Pfeifchen zur Nacht und lachten über das tolle Abenteuer, wie wir Shambhala gerettet hatten, ganz zu schweigen vom Weltfrieden. Und wir riefen uns unsere Besteigung des Everest in Erinnerung zurück, und die Befreiung und Freilassung Buddhas, und ich erzählte George zum ersten Mal, wie Buddha und ein paar seiner Brüder bei der Schlacht um Chhule aufgetaucht waren, um uns zu helfen. »Nein«, sagte er. »Du willst mich verarschen.« Und er wollte mir einfach nicht glauben. »DU WILLST MICH VERARSCHEN!«