»Habe ich dich verarscht, als ich sagte, Kunga Norbu sei ein Tulku? Haben Nathan und ich dich mit Buddha verarscht?«
Er mampfte vor sich hin und dachte darüber nach. »Ich glaub’ dir nicht.«
»Warum sollte ich lügen?«
»Du würdest nicht lügen, Freds, aber man könnte dich reingelegt haben. Ich meine, woher willst du wissen, daß es wirklich Shambhala ist?«
»Ich war dort. Ich habe etwa ein halbes Jahr lang dort gelebt.«
Er musterte mich erneut. »Freds, wie, zum Teufel, kommst du dazu, sechs Monate in Shambhala zu leben?«
Nun haben Sie sich vielleicht ebenfalls darüber gewundert, und um die Wahrheit zu sagen, ich auch. Wie wurde aus Freds Fredericks, berühmter Verteidiger der Razorbacks und typisch amerikanischer Veterinär mit abgebrochenem Studium, ein tibetanischer buddhistischer Mönch, der auch noch das geheime, verborgene Tal Shambhala gut kennt?
Ich weiß es wirklich nicht. Einige von uns müssen in ihrem Leben seltsame Karmas bewältigen, und mehr kann ich dazu nicht sagen. Doch in gewisser Hinsicht begann es für mich schon, als ich im The Graduate in Davis, Kalifornien, war. Wie ich es George zu erklären versuchte, trank ich mir dort etwa 1976 nach einem Footballspiel ein paar Bierchen und hörte zufällig, wie ein Mädchen an unserem Tisch erklärte, sie könne keinen ihrer hervorragenden Hamburger essen, weil sie Vegetarierin sei, weil ihretwegen keine Tiere sterben sollten, weil sie Buddhistin sei. Und ich dachte: wie interessant. Und dann nahm ich an diesem Abend, noch immer betrunken, aus unserem Labor einen Abfallsack mit, um ihn in die Container hinter dem Gebäude zu werfen, und als ich den Sack hineinwarf, hörte ich, wie aus einem der Container ein Wimmern kam. Ich ging der Sache nach, indem ich die anscheinend verhexten Müllsäcke herausholte, und fand schließlich den Ursprung des Wimmerns, nämlich einen Hund, der in einem der Kurse benutzt worden war. Man betäubt diese Hunde, unterzieht sie einer Vielzahl chirurgischer Arbeiten, um den Studenten zu zeigen, wie das Innere eines lebendigen Tiers aussieht, und tötet sie dann. Sowas gibt es an den veterinärischen Fakultäten ständig. Doch anscheinend hatten sie diesmal Mist gebaut, oder der Hund war besonders zäh, denn er war nicht tot. Er lag ohne seine Hinterbeine da und wimmerte und sah zu mir auf, als könne ich ihm helfen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn von seinem Elend zu erlösen, und er schnappte schwach nach mir, als ich es mit Händen, Stiefeln und Plastiksäcken versuchte, und wehrte jede meiner Bemühungen ab, bis ich ihm mit dem Containerdeckel das Genick brach. Ich lief danach eine Weile ziellos herum, fand mich schließlich auf dem Softball-Feld der Frauen wieder und fühlte mich einfach schrecklich. Und dann schaute ich die Straße entlang und über den Parkplatz und sah das runde Schild des Graduate, das aufblinkte und wieder erlosch, und etwas drehte sich in mir nach innen; später erfuhr ich, daß es mein Bodhi oder mein Erwachen zur wahren Natur der Wirklichkeit war, und ich sagte zu dem rautenförmigen Spielfeld: »Gott verdammt, ich bin Buddhist.«
Ich wußte damals gar nicht, was ich damit meinte. Doch ich gab mein Studium auf, und wie sich herausstellte, fuhren ein paar meiner Kumpel etwa zur gleichen Zeit nach Nepal, um mal ordentlich Hasch rauchen zu können, und ich begleitete sie. Keiner von uns wußte was über Nepal, abgesehen davon, daß es dort Hasch und Buddhismus geben sollte, und mit der ersten Vermutung behielten wir recht, doch nach einer Weile wurde es ziemlich langweilig, und wir beschlossen, auf Trekking zu gehen, wie es damals die große Mode dort zu sein schien. Das war etwa um den ersten August, mitten in einem schlimmen Monsun, doch wir wußten damals noch nicht einmal, daß es eine Trekking- und Nicht-Trekking-Saison gab, und die Ladenbesitzer freuten sich natürlich, uns Ausrüstungen vermieten zu können, und so nahmen wir den Bus nach Lamosangu, um von da aus zum Everest zu trekken. Natürlich war es ständig bewölkt, und die Wege waren überschwemmt, und wir nahmen die falsche Nahrung zu uns und tranken das Wasser aus den Bächen, das so klar und sauber aussah, und so wurden wir schrecklich krank. Wir waren über und über von Blutegeln befallen, und irgendwie hatten wir den Eindruck, daß uns der Reiz dieses »Trekking« irgendwie entging. Ich meine, wir waren so unwissend, daß wir glaubten, die Einheimischen würden ›Money-Mauern‹, also ›Geldmauern‹, sagen, wenn sie ›Mani-Mauern‹ sagten, und jedesmal, wenn wir an einer Mani-Mauer vorbeigingen, dachten wir, wir würden an der Dorfbank vorbeigehen, und jeder Stein sei ein Tausend-Dollar-Schein oder sowas, und wir dachten, sie hätten sich eine sehr clevere Möglichkeit einfallen lassen, einen Bankraub unmöglich zu machen, nur, daß wir uns auch unsere Gedanken machten, nachdem wir an einer Mauer nach der anderen vorbeigekommen waren, und wir uns schließlich fragten, weshalb sich diese Leute keine Toiletten kauften, wenn sie doch soviel Geld hatten. Was natürlich dumm ist, wenn man richtig darüber nachdenkt, doch wir wanderten einfach weiter, krank wie die Hunde, aber entschlossen, den Everest zu sehen oder bei dem Versuch zu sterben, und allmählich bekamen wir den Eindruck, es würde sehr knapp ausgehen.
Doch eines Morgens stand ich früh auf, um draußen zu pinkeln, und als ich aus dem Teehaus kam, waren alle Wolken verschwunden. Es war das erste Mal, daß sie uns nicht buchstäblich um die Nasen hingen. Bislang hatten wir nicht über unsere Kapuzenspitzen hinaussehen können und waren durch Nebel und Wald marschiert, als befänden wir uns im dichtesten Amazonas, und hatten nicht die geringste Ahnung gehabt, was um uns herum war. Als ich also an diesem Morgen aus der Tür trat, hatte ich den Himalaja noch nie richtig gesehen. Ich stamme aus Arkansas. Ich glaube, jeder stellt sich nach dem, was er zu Hause in seiner Kindheit gesehen hat, vor, wie groß die Dinge sind, und wo ich herkam, waren die Täler nicht größer als eine Farm, die Flüsse Bäche, die man fast überall durchwaten konnte, und die Berge Hügel, die bestenfalls vielleicht hundert Meter hoch waren. Die Landschaft hatte einen gewissen Maßstab, und für mich mußte es überall so sein; das war die natürliche Ordnung, daran war ich gewöhnt. Als ich also am Dudh Kosi aus diesem Teehaus trat und mich blinzelnd im Licht der Dämmerung umsah, tief hinab in diesen gewaltigen Riß in der Welt, der anscheinend ein Tal war, das zu durchwandern wenigstens einen Tag und hinaufzusteigen eine Woche dauern würde — und dann, als ich hinter diesem fast zwei Kilometer tiefen Tal stand und hoch, hoch, hoch darüber diese gewaltigen, spitzen, schneebedeckten Felstürme sah, die offensichtlich unglaublich hohe Berge waren …! Na ja, wenn ich nicht die Zähne zusammengebissen hätte, wäre mir das Herz glattweg aus dem Mund gesprungen. Und seit diesem Tag habe ich den Himalaja nie wieder verlassen.
Das erklärt natürlich nicht ganz, wie ich zu einem tibetanischen buddhistischen Mönch geworden bin, doch wenn ich die ganze Geschichte erzählen würde, wie ich Kunga Korbu traf, sein Schüler wurde und in Tibet untertauchte, würde ich ewig brauchen, und außerdem schielte George schon nach innen, während ich ihm all das über meine Vergangenheit erzählte. Er war mit dem Essen fertig, und so winkte er mit der Hand und unterbrach mich.
»Shambhala, Freds, Shambhala. Du wolltest mir von Shambhala erzählen.«
»Ja, das tu ich doch.«
»Du könntest mich dorthin führen?«
»Klar. Willst du es dir mal ansehen?«
»Ob ich Shambhala besuchen will? Ob ich Shangri-La sehen will? Verdammt, warum hast du das nicht von vornherein gesagt?«
»Weil es nicht darum geht, Shangri-La zu besuchen. Es geht darum, Shangri-La zu retten, und das muß hier geschehen. Außerdem hättest du mir nicht geglaubt, wenn ich dich einfach aus heiterem Himmel gefragt hätte, ob du Shambhala besuchen willst.«