»Ich glaube dir immer noch nicht, Freds. Aber wir haben Monsunzeit. Ich habe nichts Besseres zu tun. Und wenn du recht behältst … tja …« Er grinste. »Du bringst mich dorthin und zeigst es mir, und dann will ich sehen, ob ich dir helfen kann.«
Also verließen wir ein paar Tage später das Hotel Star im Morgengrauen und weckten einen der Taxifahrer, deren Wagen ihre Burg ist, und ließen uns zum Busbahnhof fahren, und dort schnappten wir uns den richtigen Fahrkartenverkäufer, der uns durch den Schlamm und die wartenden Busse zu einer klapprigen alten Kiste führte, die schon überfüllt war. Zu jeder anderen Jahreszeit wären wir schnurstracks aufs Dach geklettert und dort oben stilgerecht mitgefahren, doch wegen des Monsuns mußten wir uns ins Businnere zwängen. Ein Rawang und seine Frau und Töchter saßen auf unseren Plätzen, und so setzten wir uns zwischen den Vordersitzen und der Querwand, die die Passagiere von der Fahrerkabine trennt, auf den Boden. Etwa eine Stunde später begann die für Katmandu typische Abfahrt. Aus dem Busbahnhof raus und angehalten, um die Tramper abzuschütteln, die während der Fahrt die Lehmrampe hinauf aufs Dach gesprungen waren. Anhalten, um zu tanken. Anhalten, um im südlichen Stadtteil nach einem Motorteil zu suchen. Anhalten, um einen Platten auszuwechseln. Als sie den Ersatzreifen montiert hatten, stellten sie fest, daß sie den beschädigten Reifen nicht in die Halterung unter dem Bus bekamen, aus der sie den Ersatzreifen geholt hatten. Sie verbrachten eine geschlagene Stunde mit dem vergeblichen Versuch, und sogar der Fahrer stieg aus, um es sich anzusehen. Er war ein großer Kerl mit einem dicken schwarzen Schnurrbart und sah wie ein Ex-Gurkha aus. Normalerweise brachte ihn nichts aus der Ruhe. Er fuhr, und seine Leute hatten sich um etwaige Probleme zu kümmern; also war es schon ein echtes Zugeständnis, sich den nicht anbringbaren Reifen anzusehen. Schließlich zuckte er die Achseln und zeigte auf den Bus, und seine Leute nickten, kamen an Bord, drängten die auf dem Gang stehenden Passagiere etwas zurück, hievten den platten Reifen zur Tür hinein und die Stufen hoch und in den Gang, wo er so groß wie ein Mitfahrer stand, aber wesentlich schmutziger.
Also verließen wir Katmandu gegen Mittag, wo wir doch um sieben Uhr hatten losfahren sollen, was wirklich nicht schlecht war. Jede Busfahrt in Nepal ist ein Abenteuer, das ich genieße, doch George findet keinen Gefallen daran. Bei dieser Fahrt war er in eine Trance gefallen, um ihr zu entgehen. Jedesmal, wenn er aus ihr erwachte, schaute er zum Fahrer hinüber und sah, wie der Mechaniker mit einer brennenden Zigarette zwischen den Lippen den Kopf in die Motorhaube steckte und bei laufender Maschine Anpassungen vornahm, und George stöhnte auf und fiel wieder in seine Trance. Ein Drahtkäfig mit Hühnern stand neben dem Reifen im Gang, und jedesmal, wenn die Hühner aufsahen, dachten sie, sie würden überfahren, und kreischten wie verrückt, bis die Panik ihnen zu sehr zusetzte und sie einschliefen, nur, um wieder aufzuwachen und das ganze Trauma von neuem zu durchleben. Direkt neben den Hühnern saßen drei schweizerische Trekker, die den dichten Dunst aus Zigaretten- und Maschinenölrauch einatmeten, als sei er Ambrosia. Sie gehörten zu jener Art schweizerischer Touristen in Asien, denen der Formel-409- Aspekt ihrer Kultur einen solchen Streß bereitet, daß ihr Kompaß den Geist aufgibt und ihnen nichts besser gefällt, als knietief im Schlamm und Mißmanagement irgendeiner zurückgebliebenen asiatischen Region zu wandern, woraufhin sich ein Ludwig van Neunte-Blick der Glückseligkeit bei ihnen einstellt, wenn sie begreifen, daß es ihnen nirgendwo elend Schweiz-untypischer ergehen könnte als hier. Also war diese Busfahrt ein ausgesprochenes Vergnügen für sie.
Mittlerweile fuhren wir gemächlich aus dem Katmandu-Tal hinaus, entweder in östliche oder in westliche Richtung, das werde ich Ihnen nicht verraten, und wie üblich wirkte es überaus verträumt. Die Monsunwolken filterten das Licht, so daß die Grünflächen hervorsprangen wie in Kodak-Anzeigen; die Dörfer in der Ferne waren kleine braune Flecken, umgeben von Bäumen, die in rosa- oder lavendelfarbiger Blüte standen. Felder mit Frühreis wuchsen auf Hunderten von Terrassen in die Wolken hinauf, bis man nicht mehr genau sagen konnte, wie weit ein Hügel entfernt war, weil man nicht glauben mochte, daß jemand so schöne Terrassen auf solch einem Hügel anlegen konnte. Die Hügelkuppen wurden von einer Wolkenschicht abgeschnitten, die tiefer sank und dunkler wurde, bis der schöne Anblick schließlich von einem Wolkenbruch ausgelöscht wurde, einem so dichten Regen, daß es den Anschein hatte, Gott habe den Indischen Ozean ausgeschöpft und leere die Kelle nun auf uns. Ein typischer Monsun-Nachmittag. Ich glaube nicht, daß der Fahrer über die Windschutzscheibe hinaus sehen konnte, doch er beugte sich einfach etwas vor und fuhr mit unveränderter Geschwindigkeit weiter.
Danach konnte man nur noch meditieren oder die Geschicklichkeit des Fahrers bewundern, der blindlings gewaltigen Schlaglöchern auswich und den Bus über Erdrutsche führte, die die ganze Straße unter sich begraben hatten. Solche Erdrutsche wurden niemals abgetragen; man fuhr einfach so oft über sie hinweg, bis eine neue, wenn auch holprige und schiefe, Spur entstanden war. Doch unser Fahrer fuhr im Schrittempo darüber hinweg und nutzte jede Unebenheit aus, um nicht stehenzubleiben, wobei der Motor sich etwa genauso schnell drehte wie die Räder, und jedesmal prallten wir wieder sicher auf die wirkliche Straße auf und setzten den Weg mit unserer Höchstgeschwindigkeit von etwa vierzig Stundenkilometern fort.
Als unsere Blasen allmählich zu ex- und unsere Gehirne zu implodieren drohten, hielten wir an einem an der Straße liegenden Dorf an. Die Dorfbewohner drängten sich um den Bus, um uns zu begrüßen, und wir brachen wie Footballstürmer durch ihre Reihen und liefen in beide Richtungen die Straße entlang zu den Enden des Dorfs, um uns zu erleichtern. George und ich und die Schweizer wurden von den Kindern des Dorfes besonders dicht belagert, und als wir in die Büsche pinkelten, kicherte eine beträchtliche Zuschauerschaft über unsere Versuche, nicht in die trostlosen und zahlreichen Verdauungsrückstände der Reisenden zu treten, die vor uns hier gewesen waren. Natürlich hat ein Straßendorf ein wesentlich größeres Feld zum Scheißen als ein typisches Bergdorf, und an Georges Gesichtsausdruck erkannte ich, daß ich ihn nicht eigens auf diese Tatsache hinweisen mußte.
Wir kehrten zum Dorfplatz zurück und nahmen an einem Tisch unter einem langen Blechdach Platz. Es war nicht allzu viel Raum zwischen der Straße und einem Fluß, und dieses offene Gebäude beanspruchte den größten Teil davon. Die Gebäude an der Straße und den Hügel hinauf waren verlassen worden und standen im Begriff, abgerissen zu werden. Schweigende Frauen servierten uns große Metallplatten mit breiartigem Dhal Baat, und Kinder drangen auf uns ein und bettelten um Geld. Ein Bursche, der vielleicht wie acht aussah, durchaus aber vierzehn sein konnte, rauchte eine handgedrehte Zigarette und sagte immer wieder: »Bonbons? Kippen? Dollar? Kugelschreiber?« Eine Horde jüngerer Kinder jagte ein Schwein von Pfütze zu Pfütze und zog es am Schwanz, bis sie beinahe von einem vorbeibretternden Jeep überfahren worden wären. Dorfbewohner liefen hinaus, um die Insassen zu begrüßen, doch der Jeep hielt nicht an.
George verzichtete auf sein Dhal Baat und kaufte eine Flasche Limonade und zwei Päckchen Nabico-Waffeln. Das entsprach seiner üblichen kulinarischen Strategie beim Trekking, die er prophylaktische Ernährung nannte. Sie müssen wissen, daß er sich von einer frühen Begegnung mit einem Teller Dhal Baat, bei dem der Reis unzureichend gesäubert war, niemals wirklich erholt hatte; es hatte geschmeckt, als würde man »rohen Schlamm direkt vom Boden fressen«, wie er immer wieder gern erzählte. Danach konnte er das Zeug nicht einmal ansehen, ohne sich übergeben zu müssen, und praktizierte nicht nur prophylaktischen Antibiotikagebrauch, womit gemeint ist, daß er sich täglich ein paar Pillen einschmeißt, um Bakterien zu entmutigen, sich in ihm festzusetzen — sondern auch seine prophylaktische Ernährung, womit gemeint ist, daß er lediglich gekochte Kartoffeln ißt, die er selbst geschält, hartgekochte Eier, die er selbst gepellt, Nebico-Waffeln, die er selbst ausgepackt hat, und Wasser trinkt, das er selbst gefiltert und dreimal jodiert hat. Das hilft zwar nicht, doch er fühlt sich trotzdem besser.