Also saßen wir da, und George aß seine neutrale Diät, und die Wolken pißten auf uns herab, und die Dorfbewohner standen entweder um einen kleinen Holzofen unter dem Blechdach herum oder liefen hinaus, um ein gelegentlich vorbeikommendes Fahrzeug zu begrüßen, und alles in allem war es wie ein Schauspiel namens ›Die Erniedrigung des nepalesischen Straßendorfs‹, das man eigens für George aufführte, nur, daß es echt war. Straßen werden gebaut, und die Leute benutzen sie entweder, um nach Katmandu zu fahren und sich dort zu den Arbeitslosen zu gesellen, oder sie bleiben zurück und versuchen, vom Straßenverkehr zu leben, was klappen könnte, wenn nur ein paar es versucht hätten; doch da es nun alle versuchten, konnte es keinem gelingen, und um sie herum zerfielen die Terrassen im Regen.
Doch ich sagte zu George nie ein Wort darüber. Ich ließ ihn einfach allein, damit er zusehen konnte.
Eine Stunde später kam die Begleitmannschaft des Busses zum Schluß, daß es an der Zeit für die Weiterfahrt sei, und wir alle stiegen wieder ein, drängten uns auf unsere Plätze und fuhren los, etwa zu der Zeit, da wir an der Endstation eintreffen sollten. Kurz darauf bogen wir nach links auf eine Straße ab, die aussah, als sei sie einem Straßenbaulehrbuch entsprungen, eine schmale Asphaltlinie, auf der an der breitesten Stelle vielleicht zwei Busse nebeneinander Platz hatten, schwarz wie Kohle und völlig eben, mit Betonrinnen und Markierungen und Trägern und Abzugsgräben und dichtem Stacheldraht an den zahlreichen Kurven, die die Straße machte. »He«, sagte George schon wieder fröhlicher. »Die Schweizer waren hier.«
»Genau«, sagte ich. »Das ist die Straße, die sie bis nach Chhule führen wollen.«
»Und die Schweizer bauen sie?«
»Nee, die sind schon fertig. Jetzt baut ein anderer weiter, aber niemand weiß genau, wer.«
Die scharfen Kurven verliefen wie Nähmaschinennähte über den Hügel, doch trotzdem war die Straße ziemlich steil, und unsere alte Karre konnte sich nur im Schrittempo hinaufwälzen und wurde in den Kurven sogar noch langsamer. Jede Haarnadelkurve verlangte dem Fahrer das Äußerste ab, denn dieser Bus hatte wie alle indischen Busse ein Lenkrad, das man drei- oder viermal drehen mußte, nur, um einem Fels auf der Straße auszuweichen, geschweige denn, eine S-Kurve zu bewältigen. Unser Fahrer mußte sein großes Lasso wie ein Cowboy auf dem Viehtrieb schwingen, während sich einer seiner Assistenten aus der Tür lehnte, um ihm zu sagen, wieviel Platz noch blieb, bevor wir von der Straße und die Schlucht hinab fielen. Das Signalsystem des Assistenten bestand aus Panikrufen unterschiedlicher Intensität, so daß wir jedesmal, wenn wir eine Rechtskurve nahmen, glauben mußten, es sei das Ende; die Hühner unterstützten uns in dieser Auffassung noch. So ging es den ganzen Nachmittag hindurch. Wir gewannen nur an Höhe, so daß wir drei Stunden, nachdem wir das Straßendorf verlassen hatten, noch immer genau auf seine Dächer hinabsehen konnten, eine Tatsache, mit der sich George anscheinend nicht abfinden konnte. »Sieh dir das an«, stöhnte er nach jeder Kurve, »es ist immer noch da.« Doch dann erreichten wir die Wolkendecke und konnten überhaupt nichts mehr sehen.
Stunden verstrichen, und es wurde dunkler. Der Fahrer starrte über die Abziehbilder auf seiner Windschutzscheibe in dicken Nebel und fuhr mit Telepathie. Mir wurde allmählich richtig warm und behaglich zumute; die Bewegungen des Busses lullten mich ein, als sei ich in einem Teehaus und der Motor ein Ofen. Ich liebe solche Reisen. Ich meine, was macht das Leben denn so schön, wenn man es genau nimmt? Schlechte Tage, wenn Sie mich fragen. Wir waren schließlich auf dem Weg nach Shambhala. Niemand konnte erwarten, daß es einfach sein würde.
Nachdem George schließlich ebenfalls sämtliche vergänglichen Gefühle hinter sich gelassen hatte, wurde er philosophisch. »Du bringst mich besser zu dem echten Ort«, sagte er.
»Ist er«, erwiderte ich.
Er schaute zweifelnd drein. »Ich sehe ja ein, daß ein abgelegenes Tal in den alten Zeiten verborgen bleiben kann, doch wie wollen sie das heutzutage anstellen? Ich meine, wie verhindern sie, daß Satelliten sie aufnehmen?«
»Gar nicht. Sie sind auf den Satellitenfotos.«
»Ich dachte, es sei eine geheime Stadt?«
»Ist es auch, aber heute ist es eher eine getarnte Stadt. Die Regierung in Katmandu weiß, daß es da ist, aber sie glauben, es sei einfach eins ihrer kleinen Hochtaldörfer mit einer tibetanischen Bevölkerung. Jemand aus dem Bezirkspanchajat schaut gelegentlich mal vorbei, und alle sind freundlich zu dem Mann, sagen ihm aber nicht, wo er wirklich ist. Das Kloster sieht gar nicht so bedeutend aus, und wenn Besucher kommen, bleiben die meisten Lamas außer Sicht. Sie bezahlen ihre Steuern, schicken einen Vertreter ins Panchajat und so weiter und werden in Ruhe gelassen wie alle anderen abgelegenen Dörfer auch.«
»Dann sieht es gar nicht magisch aus?«
»Nicht für den Steuereintreiber.«
»Keine goldenen Türme und Kristallpaläste und so weiter?«
»Im Kloster haben sie schon einige Schätze. Aber kaum jemand aus Nepal kommt je vorbei. Katmandu hält es für ein tibetanisches Dorf, das auf die falsche Seite geriet, als sie sich mit China über die Grenze einigten. Was ja im Prinzip auch stimmt. Außerdem schenkt Katmandu Dörfern direkt vor der Haustür keine Beachtung, geschweige denn so abgelegenen wie diesem.«
»Also ist es sicher.«
»Aber wenn zu viele Leute vorbeikämen, würde das Geheimnis auf jeden Fall auffliegen.«
»Daher die Straßenparanoia.«
»Genau.«
Viel später hielten wir in Hochdörfern an, die von Benzinlampen und den Scheinwerfern des Busses erhellt wurden. Bei jeder Haltestelle stiegen ein paar Passagiere aus, und die anderen fielen wieder in ihre Lethargie, bis wir schließlich nach Mitternacht in ein völlig dunkles Dorf rollten, das die Endstation war. Der Fahrer drückte auf die Hupe, und wir taumelten wie Krüppel aus dem Bus hinaus, und die Teehaus-Wirte kamen, um uns aufzulesen.
Nachdem wir unsere Rucksäcke vom Dach des Busses geholt und festgestellt hatten, daß sie völlig durchnäßt waren, folgten George und ich einem Mann in ein Teehaus, in dem ich schon einmal abgestiegen war. Als wir zu dem überfüllten Schlafsaal im Obergeschoß hinaufstiegen, sah ich in die Küche, und dort kauerte im harten Schein einer Coleman-Lampe unser Busfahrer am Ofen; mit gleichmütigem Gesichtsausdruck und regelmäßigen Bewegungen machte er sich über den letzten Rest einer großen Stahlplatte her, schaufelte mit den Händen gekochten Reis in sich hinein und schlang ihn hungrig wie ein Wolf hinab. Für ihn war es ein Arbeitstag wie jeder andere gewesen — siebzehn Stunden lang hatte er in schrecklichem Wetter einen lausigen Bus über schlechte Straßen gesteuert und dabei sicher zehn Trillionen mal das Lenkrad gedreht, und irgendwie machte mich der Gedanke glücklich, daß solche Helden direkt aus Homers Werken noch über das Antlitz dieser Erde wandelten. Wenn wir am nächsten Morgen aufstanden, würden er und seine Leute schon längst wieder unterwegs sein, zurück nach Katmandu, wo sie umdrehen und am nächsten Tag die gleiche Fahrt erneut beginnen würden. Manche Menschen müssen für ihren Lebensunterhalt wirklich arbeiten.
Das Dorf am Ende der Straße war im gleichen Zustand wie das Straßendorf tags zuvor. Es konzentrierte sich um die große staubige Fahrbahn, die es teilte. Neue Gebäude scharten sich um das Ende der Straße, alte Gebäude wurden abgerissen, um Baumaterial oder Feuerholz aus ihnen zu gewinnen, und die ganze Sache war von Feldern zum Scheißen umgeben, besonders am Fluß, der am anderen Ende des Dorfes vorbeifloß. Das ist wegen des Mangels an Toilettenpapier unumgänglich, ist ihrer Wasserversorgung aber nicht gerade förderlich. Als wir unser morgendliches Geschäft erledigten, sagte George: »Ich verstehe nicht, warum sie nicht an unsichtbare Bazillen glauben können. Luft ist unsichtbar. Ihre Götter sind unsichtbar.«